Augenblick

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Seufzend zieht sie sich ihre viel zu große Kaputze, mit dem Fell, welches ihr in den Ohren kitzelt, ein Stückchen tiefer ins Gesicht.
Es hat leicht angefangen zu fieseln.
Der Regen landet als feine Tröpfchen in dem hellen, leicht zerzausten Rand der Kaputze.

Den urteilenden Blicken der Leute ausweichend, schaut sie starr auf ihre Hände.
Das Unbehagen im Bauch und Rechtfertigungen die in ihrem Kopf herum schwirren, darauf wartend endlich ausgesprochen zu werden.
Ihre zierlichen Hände krampfhaft um das mit Gummi überzogene Metall geklammert.
Halt suchend.
Mit leichtem Druck der rechten und energischem ziehen der linken Hand, lenkt sie, den doch etwas ungelenken Kinderwagen, richtung Park.
Flüchtend.

Sie atmet einmal tief durch, sodass sich das unangenehme ziehen in ihrem Brustkorb und der Bauchregion langsam legt.
Verträumt beobachtet sie dabei einen Tropfen, sich den Weg ihren Unterarm entlang, über den grauen Stoff, weiter zum Handgelenk bahnend.
Wie er sich mit leichtigkeit über das Grobe Material bewegt, andere Tropfen nutzt, die seine Geschwindigkeit steigern. Es erinnert an eine jubelnde Menge, die einem spitzen sportler ihren Zuspruch zu schreit.
Sie bewundert diese leichtigkeit.
Sie bewundert wie dieser einfache Tropfen, jedes Hindernis- jede noch so große Hürde-

Er sieht über alles hinweg, sein Ziel vor Augen, irgendwann am Boden anzukommen, sich mit dem grauen Nass zu vermischen.
Freiheit.

Ein Glucksen vor ihr reißt sie aus ihren Gedanken, ein Glucksen welches ihr ein Lächeln auf die Lippen zaubert.

Das war alles was sie gerade hören wollte, kein Gemurmel, kein Getuschel, nur das.
Nichts anderes.

Dieser kleine Glückslaut belebt ihre Sinne, lässt sie ihre trüben Gedanken über Vorurteile der Gesellschaft vergessen, erinnert sie daran wofür sie das alles auf sich nimmt.
Es lässt sie leben, im hier und jetzt.
Es lässt sie vergessen, hier und jetzt.

Ihre Hände lassen den Kinderwagen anhalten,
ihre Füße tragen sie im Bogen um ihn herum
und ihre Hände greifen um den Torso des kleinen Jungen.

Vorsichtig hebt sie ihn hoch, ein warmes lächeln ziert ihre Lippen.
Erst jetzt, so fern von ihrer Gedankenwelt, fällt ihr auf das der bedrückende Regen nachgelassen, sogar gänzlich aufgehört hat.
Vorsichtig, darauf bedacht das der kleine Junge sein Glechgewicht von selbst findet und sie ihn zur Not auffangen könnte falls nicht, setzt sie ihn auf dem Boden ab.

Vorsichtig.
Fast schon zu vorsichtig.

Die Sorge umsonst.
Sicher und voller Energie tapst er auf eine am Boden liegende Kastanie zu, um sie ihr stolz zu präsentieren.
Aufgrund ihrer Zustimmung von der Euphorie gepackt, läuft er nun voraus und präsentiert alle zwei Meiter neue Errungenschaften.
Wieder ein annerkennendes Lächeln ihrer seits.

Sie folgt ihm, den Kinderwagen an den vorwurfsvollen Blicken der Leute vorbei.
Vorwürfe, aber keine Ahnung von nichts.
Urteilen ohne persönlichen Bezug.

„So jung"
„Man sollte ihr das Kind wegnehmen"
„Das arme Ding"
„Schon mal was von Abtreibung gehört?"
„Verhütungsmittel kennt heutzutage auch keiner mehr"

Kastanienrollen wurde dem Einjährigen nach einer Zeit augenscheinlich zu langweilig, wesshalb er nun, die runden, braunen, noch eben so in seine patsche Händchen, passenden Kugeln auf ihren Schuhen platzierte.
Wegen ihrer unvorteilhaften Form, rollt hin und wieder eine zurück auf den asphaltierten Weg zurück.
Und auch daran findet der Kleine seinen Spaß.
Er lacht aus vollem Hals sodass, das helle Quietschen noch einige Sekunden in ihren Ohren hallt.

Langsam, ganz langsam wird ihr immer wärmer ums Herz.
Ja, man könnte meinen die Sonne geht auf.
Für eine kurzen Augenblick, nur ein Wimpernschlag, bleibt die Welt um sie herum stehen.

Sie hält genau das fest. Diesen Augenblick. Diese Freiheit, Unbeschwertheit des kleinen Kindes.
Nicht ihr eigenes. Nein.
Nicht so wie die Gesellschaft denkt, nicht so wie alle Urteilen.
Er war ihr Sonnenschein und die liebe die ihm gebührt war die einer Mutter und das konnte ihr niemand nehmen. Kein abwertender Blick, kein ungläubiges Kopfschütteln.
Niemand.

Und in dem Moment wo sie ihre Augen schließt, in dem sein Lachen Leben durch ihren Körper sendet empfindet sie genau diese Liebe.
Eine Mutter musste tausende dieser Momente aufrufen können, tausend mal Endorphine, so unzälige bittere Tränen.
So viele Emotionen.
Leben.

Sie stritt immer ab eigene Kinder haben zu wollen.
Zu viel Verantwortung, Einschränkung- dabei hat Sie nur Angst hilflos zu sein.
Angst etwas falsch zu machen.
Angst nicht die Mutter sein zu können, die sie gerne wäre.
Angst sie würde ihre größte Angst vererben.

Wie soll man jemandem das Glück des Lebens zeigen, wenn man keine Ahnung hat.
Wie soll man für ein Kind sorgen, wenn man nicht mal für sich selbst sorgen kann.

Wenn manchmal alles einfach ein bisschen zu dunkel ist.

Sie wird nie dieses Strahlen bei ihrem eigenen Kind sehen können.
Aus Angst.

Ein Sonnenstrahl.
Der Augenblick vergeht und sie schlägt ihre Augen auf.

Zaghaft drückt sie ihn an ihre Brust, ihm das bisschen wärme schenkend was er in ihr verursachte. Sich im Stillen bedankt für das bisschen Licht...



...weil manchmal alles einfach ein bisschen dunkel ist.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Apr 20, 2020 ⏰

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