Nervös kaute ich an meinem Fingernagel herum. Sollte ich es wirklich tun? Ziellos streifte ich umher, vorbei an den verschiedensten Taschen und Schuhen. Eigentlich war das eine Sache von nur ein paar Sekunden. Irgendeine Tasche packen, zum Ausgang gehen und sobald der Alarm losgeht, anfangen zu rennen. Aber das wäre eine Straftat. War es das wert? Musste ich wirklich so dringend zu ihnen gehören? Ja! Ich wollte ihnen beweisen, dass ich auch mutig sein konnte, dass ich zu ihnen gehörte! Kaum hatte ich mich innerlich dazu entschlossen, fing mein Herz an zu rasen und der Schweiß brach mir aus. Langsam nahm ich mir irgendeine Tasche aus dem Regal und sah zum Ausgang. Ganz ruhig bleiben Caro, du schaffst das! Du darfst dir nur nichts anmerken lassen.
„Hey, geht es dir gut?" Ich zuckte zusammen und ließ vor Schreck die Tasche fallen. „J-ja... Ja, alles ok. Mir geht es gut." Stotterte ich und versuchte zu lächeln. Der junge, ziemlich gut aussehende Mann vor mir musterte mich kritisch, hob die Tasche auf und gab sie mir zurück.
„Du siehst aber nicht so gut aus. Soll ich einen Krankenwagen rufen?" Er legte seine Hand leicht auf meine Schulter und schaute mich prüfend und gleichzeitig besorgt an. Er war auf jeden Fall größer als ich, sah auch recht kräftig und sportlich aus.
Ich fühlte mich immer unwohler, trat einen Schritt zurück und stammelte: „Es geht schon. Mir war nur ein bisschen schwindelig, aber jetzt geht es wieder. Danke."
Um keinen Preis wollte ich Aufsehen erregen. Ich musste es einfach schaffen, diese Tasche zu klauen. Ich hörte die Anderen schon lachen und spotten, wenn ich es nicht schaffen würde.
Anscheinend schien ihn meine Antwort zufrieden zu stellen, denn er ließ von mir ab und ging langsam weiter, nicht ohne sich noch einmal zu mir umzudrehen. Ich schluckte. Mein Mund war total ausgetrocknet und mein Herz raste. Ein letztes Mal schaute ich mich um. Niemand sah zu mir hinüber. Die Tasche in der rechten Hand, ging ich mit festen und selbstsicheren Schritten Richtung Ausgang. Jetzt oder nie! Die Schiebetüren glitten auf. Ich war dem Ziel schon greifbar nahe. Dann ging der Alarm los. Es war ein ohrenbetäubendes Heulen. Für eine Schrecksekunde erstarrte ich und das wurde mir zum Verhängnis. Als ich mich von dem Schreck erholt hatte, rannte ich los, doch ich kam nicht weit. Ich hörte noch „Bleib stehen!" und „Haltet die Diebin!", als ich schon am Arm gepackt wurde und zum Anhalten gezwungen wurde. Ich wand mich und wollte mich losreißen, aber ich wurde fest an beiden Oberarmen festgehalten. Ich hatte keine Chance.
„Stopp junges Fräulein. So geht das aber nicht. Hast du nicht vergessen die Tasche zu bezahlen?"
Diese Stimme kannte ich doch?! Es war der gleiche Typ, der mich schon einige Minuten zuvor angesprochen hatte.
„Lassen Sie mich los, verdammt!" Ich schaute ihn wütend an. Konnte der mich nicht in Ruhe lassen??
Langsam wurde ich panisch. Ich musste hier weg, bevor jemand auf die Idee kam die Polizei zu rufen. „Sie haben kein Recht mich so anzufassen. Nehmen Sie ihr dreckigen Hände von mir!" keifte ich weiter.
Er ließ nur auf einer Seite los. Dafür packte er mich an meinem linken Arm jetzt stärker und zog mich in den Laden zurück. Außerdem nahm er mir die geklaute Tasche ab. Da kam uns die Ladenbesitzerin auch schon ganz aufgebracht entgegen. „Vielen Dank, dass Sie so schnell reagiert haben. Ich hätte sie wahrscheinlich nicht erwischt. Also so langsam sollte ich mir wirklich überlegen ein paar Security-Leute einzustellen." Die ältere Frau war ganz hektisch, keuchte laut und hatte schon rote Flecken im Gesicht. Sie faselte immer wieder von den letzten Diebstählen und wie dankbar sie doch diesem Typ war. Er hörte der Frau zu, versuchte sie zu beruhigen und fragte: „Haben Sie denn die Polizei schon verständigt?" „Ja natürlich!"
Ich war am Arsch! Der Mann hielt mich immer noch fest und wie es schien, würde er mich in nächster Zeit auch nicht los lassen. Ich musste mir etwas einfallen lassen, um hier weg zukommen. Ich wurde, wenn möglich, noch nervöser. Dem Mann schien das aufzufallen. „Jetzt bleib mal ganz ruhig. Hör auf zu zappeln. Das war ziemlich dumm von dir, die Tasche zu klauen." Dann wandte er sich der Ladenbesitzerin zu. „Haben Sie vielleicht ein Büro oder einen anderen Raum in dem wir auf die Kollegen warten können? Ich glaube wir erregen hier zu viel Aufsehen." Zuerst schien die Dame etwas verwirrt zu sein, aber dann wurde sie gleich wieder ganz hektisch. „Aber ja natürlich, wir können in mein Büro gehen. Kommen Sie!" Dann stöckelte sie auf ihren High Heels zügig in den hinteren Bereich des Ladens. Mein „Aufpasser" wie ich ihn in Gedanken nannte, folgte ihr und schob bzw. zog mich mit sich, als ob ich gar nicht vorhanden wäre. Ich schaute angestrengt auf den Boden. Es standen schon einige Leute um uns herum und beobachteten die Szene ungeniert. Mein Kopf lief rot an und mir wurde ganz heiß. Das war so peinlich.
In dem kleinen, spärlich eingerichteten Büro, wurde ich auf einen Stuhl gesetzt und mein Aufpasser ließ mich endlich los. Die Ladenbesitzerin ging wieder raus um die Polizisten hier her zu führen, wenn sie eintrafen. Die Bürotür ließ sie offen und ich spähte unauffällig hinüber und versuchte abzuwägen ob ich es schaffen könnte. Der „Aufpasser" schien allerdings einen sechsten Sinn zu haben und stellte sich breitbeinig in die Tür.
„Was hast du dir denn dabei gedacht?"
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sah in eine andere Richtung. Ihm musste ich gar nichts erzählen.
„Hat es dir auf einmal die Sprache verschlagen?... Verrätst du mir wenigstens deinen Namen?"
Ich schwieg. Er versuchte weiterhin mir irgendeine Antwort zu entlocken, doch ich blieb stur.
Die Anspannung der letzten Stunde ließ langsam nach und ich merkte nun, wie erschöpft ich war. Der Mann schien das zu merken und hörte auf mich zu nerven. Obwohl es mir lieber gewesen wäre, er hätte weiter geredet. Er hatte eine sanfte und wirklich schöne Stimme. Und dazu sah er echt gut aus. Ich hatte Zeit genug ihn zu mustern. Kurze schwarze Haare, ein freundliches Gesicht, zwei strahlende Augen und einen Dreitagebart, der ihm stand.
Vor der Tür wurde es lauter. Ich hörte näherkommendes Klackern und die nervige Stimme der Ladenbesitzerin. „Sie ist dahinten in meinem Büro. Kommen Sie. Und nehmen Sie sie bitte gleich mit. So etwas muss bestraft werden!"
Ich merkte wie die Anspannung in meinen Körper zurückkehrte.
Mein Aufpasser, der seither in der Tür stand, trat zur Seite und ließ zwei uniformierte Polizisten herein. Der eine Polizist war breit und riesig, er musste sich leicht bücken um durch die Tür zu laufen. Ich schluckte. Bei diesem Anblick bekam ich es mit der Angst zu tun. Der andere Polizist sah im Gegensatz dazu echt klein aus, aber trotzdem noch bedrohlich genug. Als die Polizisten meinen Aufpasser erblickten, waren sie kurz überrascht, wirkten dann aber erfreut. „Flo, was machst du denn hier?" fragte der kleinere Polizist. Jetzt war ich es, die überrascht war. Woher kannten die sich? Die Polizisten unterhielten sich einige Minuten lachend mit meinem Aufpasser. Sie schienen sich ziemlich gut zu kennen. Dann wandten sie sich mir zu und mir wurde schlecht.
„So, hallo erst mal. Ich bin Paul Richter," ,der kleinere Polizist deutete auf sich und anschließend auf den riesigen Polizisten, „und das hier ist mein Kollege André Mattheus. Unseren Kollegen Florian Winter hast du jetzt auch schon kennen gelernt." Mit diesen Worten grinste Paul hinüber zu meinem „Aufpasser". Ich hatte wirklich verdammtes Pech. Mein Aufpasser war ein Polizist Warum musste ich mich ausgerechnet von einem Polizisten erwischen lassen?
Paul kam näher und holte einen Notizblock und Kugelschreiber heraus. „Also wie heißt du denn?"
„Caro", nuschelte ich. Es hatte jetzt ja sowieso keinen Sinn mehr. Ich war am Ende.
„Gut, Caro. Wie alt bist du?"
„16."
„Hast du deinen Ausweis dabei?"
„Handtasche."
„Du scheinst ja nicht sehr gesprächig zu sein.", meinte der große Polizist, André, und suchte in meiner Handtasche nach meinem Ausweis. Er überreichte ihn Paul, der sich dann von uns abwand und das Funkgerät zur Hand nahm. Doch ich bekam nicht mit, was er tat, da André mich weiter ausfragte. „Warum wolltest du denn diese Handtasche klauen?" Ich zuckte mit den Schultern. Ich hatte keine Lust mit ihm zu reden und ehrlich gesagt hatte ich extrem Schiss.
„Also wenn du weiterhin so schweigsam bleibst, müssen wir dich mit aufs Revier nehmen und ..."
„Nein!" unterbrach ich ihn. „Bitte nicht!... Ich..." stammelte ich und suchte nach den richtigen Worten. „Das war eine Kurzschlussreaktion. Ich wollte doch nur zu denen gehören. Wissen Sie, ich hab keine richtigen Freunde und... und dann kam die coolste Gruppe an meiner Schule auf mich zu und wollte, dass ich zu ihnen gehöre. Ich wollte doch nur auch endlich ein paar Freunde haben und dazu gehören. Aber ich sollte zuerst eine Mutprobe bestehen...Ich hab gar nicht richtig darüber nachgedacht. Das war eine dumme Idee, ich weiß. Aber ich schwöre ich werde so etwas nie wieder tun!"
Die Ladenbesitzerin hatte die ganze Zeit dabei gestanden. Wahrscheinlich sah ich so erbärmlich aus, dass sie Mitleid bekam. Jedenfalls räusperte sie sich und meinte: „Also, ähm, wenn sie verspricht, dass sie nie wieder etwas klauen wird, dann... ja dann werde ich sie nicht anzeigen." Hoffnungsvoll schaute ich zu den Polizisten hinüber. Die besprachen sich dann kurz und redeten anschließend nochmals mit der Ladenbesitzerin. Dann schien alles geklärt worden zu sein. Ich bekam Hausverbot, wurde aber nicht angezeigt. Und ich musste hoch und heilig versprechen, nicht mehr zu klauen. Aber das hatte ich auch nicht vor. Der Schreck saß mir immer noch tief in den Knochen.
„Gut, das hätten wir schon mal. Caro jetzt gehen wir zu dir nach Hause.", eröffnete mir dann Paul. „Was? Warum das denn? Kann ich nicht einfach gehen?"
„Nein, du bist noch minderjährig und wir müssen deine Eltern über den Vorfall in Kenntnis setzen."
Während der Fahrt nach Hause, wappnete ich mich innerlich schon gegen die Standpauke meiner Eltern. Als meine Mutter die Tür öffnete und mich zusammen mit der Polizei war, sah sie zuerst total geschockt aus, aber als erfuhr was ich getan hatte, wurde sie zunehmend wütender. Die Polizisten verabschiedeten sich und dann ging das Donnerwetter los. Am Ende bekam ich 2 Wochen Hausarrest.
Am Abend als ich im Bett lag, dachte ich noch einmal über den ganzen Tag noch. Vor allem dachte ich oft an Florian Winter und sein süßes Lächeln. Vielleicht musste ich mich noch einmal erwischen lassen um ihn wieder zu sehen. Mit diesem Gedanken schlief ich ein.