leben

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Ich sitze auf meinem Motorrad.

Ich schaue mir das Tal an, das unter mir liegt. Die von der untergehenden Sonne in orangenes Licht getauchten Wiesen.

Wie die Berge in der Ferne bläulich leuchten und sich Nebel über den Bergspitzen bildet. Ich frage mich warum ich nicht öfter hier her gefahren war, da dieser wunderschöne Fleck Erde nur 30 Minuten von meinem Zuhause entfernt ist.

Ich lächle über die Vogelgesänge und das Geräusch im Winde raschelnder Äste.

Mein Griff um das Handy spannt sich an. Langsam, quälend langsam, führe ich meinen Finger auf den grünen Hörer.

Mein Herz rast unerträglich schnell! Das Blut schießt mir mit jedem 'tuuut' weiter ins Gesicht.

'Hallo?'

Ich bemühe mich, das mir das Handy nicht aus der schwitzigen Hand rutscht.

'Ja!' ... 'äh, ich meine, hi!'

Ich beiße mir auf die Lippe, er hat meine Stimme erkannt. Er weiß wer ich bin! Jetzt werde ich es ihm endlich sagen! Nach Jahren werde ich es ihm endlich sagen!

'Ich liebe dich!'

Ich beiße mir fester auf die Lippe.

Ich habs gesagt! Ich habs gesagt! Himmel! Bitte! Gott ist das dumm! Warum sagt er denn nichts? Wann sagt er endlich etwas! Vielleicht ist die Verbindung abgebrochen!

'Hallo?'

Ich warte, eine unerträgliche Sekunde lang.

'Ja!'

Fragend sehe ich zur Seite als wäre er da. Als könnte er meinen Blick sehen.

'Ja', wiederholt er 'ich glaube... ich liebe dich auch!'

Ich lächle. Ich habe es getan! Ich habe es ihm gesagt und er fühlt genauso wie ich! Wir legen nach einer Weile auf. Er will mich sehen! Ich atme tief ein. Ich fühle mich glücklich und frei. Irgendwie... leicht.

Jetzt kann ich es tun.

Ich fahre schnell, so schnell, dass ich fast fliege. Ich denke an all die Dinge die ich noch tun will.
Ich will Fallschirmspringen und eine Nacht durch tanzen.
Ich will in den Zug steigen und irgendwohin fahren, aussteigen, mich fragen wo ich bin und feststellen, dass es nicht schlimm ist nicht zu wissen wohin es geht. Denn mir kann nichts passieren.

Mir kann nichts passieren, so lange ich in den Zug steige und es wage meinen Weg suchen zu müssen.

So lange ich meine Träume lebe. So lange ich lebe und nicht nur existiere!

Ich fahre schnell, sehr schnell, um schneller bei ihm zu sein.

Der Fahrtwind und das Gefühl des Rausches, dass ein kleiner Fehler reichen würde, um mich auf den Asphalt zu schleudern, erinnert mich daran wie schnell lebig das Leben ist.

Wie oft ich in dieses Restaurant gehen wollte und wie oft ich gesagt habe das mache ich morgen. Doch jetzt gibt es kein morgen mehr.
Jetzt mache ich alles was ich machen möchte direkt!
Ich werde ihn sehen, ihn küssen und wir werden gemeinsam weggehen!
Durch Europa reisen!
Alle Restaurants ausprobieren die wir sehen.

Wir werden uns Fragen stellen, manche werden unangenehm zu beantworten sein, aber dafür echt; lebendig.

Er steht vor dem grauen Block aus Stahl in dem er wohnt. Ich halte direkt vor ihm an.

'Komm, steig auf!'

Ich lächle ihn an.
Lächle in seine braunen Augen.
Er schaut mich nur an.

'Hallo?' Ich wedle mit der Hand spielerisch vor seinem Gesicht.

'Ich hätte früher mit dir fahren sollen...'

'ähm... ich habe dich ja gerade erst gefragt...'

'Ja. Das war zu spät.'

Ich sehe ihn an.

Sein Gesicht verzerrt sich. Ich sehe ihn hilflos an, während er sich den Rücken hält, seine Haltung sich verkrümmt.

Er zittert, kann sich nicht mehr auf den Beinen halten. Er fällt. Schlägt auf dem Boden auf.

'Nein!'

Ich knie neben ihm, halte ihn, streiche ihm das Haar aus dem Gesicht.

'Nein!'

Ich schrei.

'Nein! Es kann nicht zu spät sein. Wir haben doch noch nicht gelebt! Wir haben immer nur gewartet, dass das Leben für uns beginnt!'

Er lächelt gequält.

' Ich weiß!'

Er krampft sich zusammen, ich sehe, wie sein braunes Haar weiß wird. Wie sich Falten auf sein Gesicht zeichnen. Falten die durch wiederholte Anstrengung und Arbeit entstanden sind.

'Ich weiß Liebes. Nur waren wir schon am Leben, während wir darauf gewartet haben, das es beginnt.'

Er schließt die Augen. Er atmet ein letztes mal ein und der Tod holt den letzten Atem aus ihm heraus.

Irritiert sehe ich zur Seite, in die Pfütze die meine Tränen neben seinem gealterten Körper gebildet haben.

Ich schaue in meinen Schmerz.

Der Schmerz der sich auf meinem eigenen Faltendurchzogenem Gesicht abzeichnet.

Wir sind alt geworden.

Wissend das wir auf das Leben warteten.

Ohne zu wissen, dass wir bereits lebten.

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Eine heiße Träne rollt mir über die Wange. Ich schluchtze und wache auf!

'Hey! Liebling! Es war nur ein Traum. Sssssch.'

Er nimmt mich in den Arm. In das sichere Tal, dass wir nie verlassen haben. Ich schmiege mich an ihn, atme erleichtert aus und wieder ein!

'Nein!'

Ich gucke ihm in die warmen, braunen Augen und hole Luft, um ihm zu widersprechen.

'Nein. Es war kein Traum. Komm!'

Ich nehme seine Hand. Ich nehme keine Rücksicht darauf, dass er nur in Boxershorts und ich noch im Nachthemd bin.

Wir setzen uns auf das Motorrad.

Bevor wir losfahren, sehe ich ihn verliebt an, so wie am allerersten Tag.

'Heute warten wir nicht auf morgen!'

Wir werden an all unseren vielleichts vorbeifahren. An all den Leben, all den Entscheidungen bei denen wir stehen geblieben sind. Immer in der Hoffnung das Leben würde sich irgendwann von selbst einstellen.

Diesen Fehler machen wir nie wieder.

Denn ab jetzt hören wir auf zu warten.

Wir werden leben!

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