Der erste Takt

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Es ist Nacht. Der Mond scheint durch das Fenster auf den Boden des Zimmers. Es ist still. Das einzige Geräusch welches zu vernehmen ist, ist das Ticken der Wanduhr welche von dem Vormieter der 2-Zimmer-Wohnung auf einem örtlichen Flohmarkt erworben und vergessen wurde. "Vintage"... antik trifft es eher, das behauptet zumindest jeder der die Wohnung unseres Studenten jemals betreten hat. Marius entgegen aller Meinungen wurde von der Wanduhr auf unnatürliche Weise in ihren Bann gezogen. Er sagt die Uhr habe bereits vieles gesehen, viel mehr als sich ein jeder von uns vorstellen könnte und dennoch hat sie es nie verlernt ihren immer gleich bleibenden Takt von sich zu geben. Marius verbindet diese Wanduhr mit dem Motto sich immer treu zu bleiben und das jeder Gegenstand und jedes Geschöpf eine gewisse Schönheit in sich trägt, sofern man es vermag diese sehen zu können. Des Weiteren hat Marius einen Drang sich in Dinge hineinzusteigern. Er ist Verfechter der Meinung, dass jeder eine gewisse Passion in sich trägt, seine ist die Musik. Er ist ein begabter Pianist welcher die Musik für den Ausdruck seiner Emotionen verwendet. Wenn er spielt, dann spielt er Balladen mit erhöhter Geschwindigkeit und springt in den Oktaven umher um seiner Musik, wie unserer aller Leben, Höhen und Tiefen zu verleihen. Er studiert. Er studiert kognitive Poetik, welche ein Zusammenschluss aus kognitiver Linguistik, kognitiver Psychologie, Neuropsychologie sowie Biologie darstellt. Wenn man diese Informationen mit in Betracht zieht, so ergibt sich ein runder und dennoch Fragen aufwerfender Eindruck von unserem vermeintlichen Protagonisten. Während all dieser Feststellungen ist immer noch beobachtbar, dass Marius tief schläft. Der einzige Unterschied ist, dass von dem einsamen Ruf eines Uhus, der sich auf einen Ast eines Baumes auf einem nahegelegenen Friedhof niedergelassen hat, die zerbrechliche Stille der Nacht unterbrochen wurde. Um keinen Eindruck auftauchen zu lassen, werden wir Marius seine letzte Ruhe genießen lassen.

Derweilen in den gut codierten Weiten des Unterbewusstseins des Menschen, wo, wie auf unergründliche, magische Weise die Träume der Nacht aus den Eindrücken des Tages entstehen, entschließt sich eine junge Frau dazu das Traumland zu betreten, um ihre ganz eigene Realität zu erfinden, zu erträumen. Der Traum ist voll mit Indizien, welche auf einen ersten, flüchtigen Blick leer erscheinen. Wir wissen nicht, wer diese Frau ist oder was sie macht. Es ist uns lediglich freigestellt ihre Berufung zu erahnen und ihre Passion zu skizzieren und trotz aller Bemühungen werden wir kein klares Bild von ihr erhalten. Wie eine Metapher ohne Aussagekraft, welche nur ins richtige Licht gerückt werden muss, um einen mit Bedeutung zu übermannen. Es ist dunkel. Sie singt. Sie tippelt mit dem Fuß auf dem Parkett, sodass ein Rhythmus entsteht. Sie sitzt auf einem Hocker, uns mit dem Rücken zugewandt, unter einer Deckenlampe, welche einen Lichtkegel wirft, sodass die beschriebene Optik sichtbar wird, beurteilbar wird. Hierbei handelt es sich um eine illusionierte Darstellung einer eventuellen Realität, ohne einen Funken Wahrhaftigkeit, welche von dieser ominösen, unbekannten Person wahrhaftig erträumt wurde, dargestellt wurde. Mit all diesen lückenhaften Darstellungen ist nichts erfassbar, sodass nicht einmal die Existenz besagter weiblicher Lebensform ein sicheres Gut zu sein scheint.

"He pretends he's okay but you should see him in bed, late at night, he's petrified. Im forced to deal with what I feel, there is no distraction to mask what is real", sind die gesungenen Worte die ihre Lippen verlassen und in den unbekannten Raum entschwinden. Stille kehrt ein. Ein zufriedengestelltes aber kurzes Lachen erklingt. Die Deckenlampe, welche uns mit Ihrem Licht in eine scheinbar sichere Realität wiegt, beginnt zu flackern. Letzten Endes erlischt das Licht und der Raum wird erneut in vollkommene Dunkelheit getaucht. Noch bevor die bedrängende Stille erneut einkehren kann, erschallt aus der Dunkelheit das Geräusch, von Schuhen mit Absätzen auf Parkett. Durch die Dunkelheit wird uns vorenthalten, wohin unsere geheimnisvolle Dame entschwindet.

Marius wacht auf, schweißgebadet erhebt er seinen Körper und reißt seine Augen weit auf. Er hat scheinbar etwas Schockierendes in seinen Träumen erlebt. Ihn scheint seine erträumte Realität, ohne einen Funken Wahrhaftigkeit, einen zu starken Realitätsbezug aufgewiesen zu haben. Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit, soviel ist sicher, würden wir erfahren, was er geträumt hat, wenn er sich nur selber daran erinnern könnte. Der Schock entschwindet seinem Gesicht und Neutralität, Rationalität kehrt ein. Er steht auf. Er liest von seiner Wanduhr, die immer noch Ihre gleich bleibenden Takte von sich gibt, die Uhrzeit ab. 3:30 Uhr. Nachts, dabei so sehr Nachts, dass es schon fast wieder Morgen war. Es ist Samstag. Der Wetterbericht verspricht einen kühlen, grauen Tag, nichts worüber man sich streiten würde. Vor lauter Demotivation des Alltags, macht sich Marius ein Butterbrot und nimmt sich ein Glas Wasser mit an sein Bett, legt Brot und Glas auf seinen Nachttisch und schläft wieder ein. Er schläft wieder tief und fest, der Mond scheint immer noch auf den Boden des Zimmers, indem wir Marius beim Schlafen beobachten können. Ich weiß, dass ich Marius seine letzte Ruhe genießen lassen wollte, um zu verhindern einen Eindruck zu erwecken, aber wenn wir mal ehrlich sind, man sagt man solle aufhören, wenn es am schönsten ist, doch ich halte das für dumm, wer bitteschön würde aufhören einen schönen Moment zu genießen, ihn in all seinen wunderschönen Aspekten zu betrachten und wenn dies getan ist zurückzuspulen und es erneut zu durchleben bis man sich zur Vollendung daran ergötzt hat. Marius wacht auf. Er scheint zufrieden und erholt, ihn scheint ein Gefühl von Zufriedenheit und Gelassenheit zu durchfluten. Doch auch nun ist deutlich zu erkennen, dass die Erinnerung an seinen sicherlich schöneren Traum aus seinen Augen verschwunden ist. Marius nimmt einen Schluck von dem Wasser, was er sich zuvor bereitgestellt hatte und beißt von seinem Butterbrot ab. Er beschließt in den Tag zu starten und liest von seiner Wanduhr, welche immer noch den immer gleich bleibenden Takt von sich gibt, die Uhrzeit ab. 9:30 Uhr. Es ist Samstag, der Wetterbericht hatte sich bewahrheitet und ein kühler, grauer, mit Wolken bedeckter Tag war erwacht. Mittlerweile fällt kein direktes Licht mehr durch das Fenster auf den Boden des Zimmers und Marius zieht sich an. Er wechselt von der Boxershorts, in der er geschlafen hat in ein gepflegtes Herbstoutfit, auch wenn es kein Herbst ist. Er trägt einen weißen Rollkragenpullover und eine in verschiedenen Grautönen karierte Hose. Des Weiteren trägt er keine besonderen aber schönen Schuhe und einen Schal, welcher die Grautöne der Hose erneut aufgreift, zu bemerken ist, dass der Schal aufgrund seiner Dicke mit Sicherheit keinen wärmenden, sondern eher einen optischen Zweck verfolgt. Angezogen und fertig für den Tag, geht er nach draußen, über den nahegelegenen Friedhof hin zu einem Park, dreht dort seine Runden und umgibt sich mit gesichtslosen Mitmenschen, was dank seines Gesichtsausdrucks sichtlicher Weise keine seiner guten Ideen war. Er zückt sein nicht besonderes oder schönes Handy und bestellt seine ebenfalls gesichtslosen Freunde zu sich in den Park. Ein Picknick ersetzt das Frühstück und Smalltalk sowie Geplänkel jeden noch so kleinen Raum für niveauvolle Unterhaltungen. Es ist ein kalter, grauer, mit Wolken bedeckter Samstag und die graue Einstellung des Tages wird zu der grauen Einstellung von Marius. Mittlerweile ist es zwar kein Tag, um den man sich streitet, jedoch einer an dem man sich streitet.  Um unergründliche Konflikte mit gesichtslosen Picknick-Ermöglichern zu vermeiden, erfindet Marius eine flüchtige Ausrede, um den Frühstückersatz verlassen und hinter sich lassen zu können. Er geht zurück. Er geht von dem Park über den nahegelegenen Friedhof zu seiner 2-Zimmer-Wohnung. Er ist wieder zufrieden und stolz auf das Risiko welches er eingegangen ist. Das Risiko ebenfalls gesichtslos  zu werden, die graue Einstellung des Tages, welche mittlerweile auch zu seiner Einstellung geworden war erhellt sich nun wieder und Marius widmet sich für den Rest des Tages, wie so oft, seiner Passion. Er spielt und spielt und springt dabei immer wieder in den Oktaven umher um wie auch unser aller Leben, seiner Musik Höhen und Tiefen zu verleihen. Ein realistischer Mann.

Das Lied auf ihren Lippen (pausiert)Where stories live. Discover now