Abschied

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Was hatte sie an diesen Ort verschlagen? Er überlegte, warum hier? Was war in all der Zeit geschehen?
Zwischen ihm und ihr lag die Ewigkeit, ein Abgrund, den zu überbrücken ihm nicht möglich war.
Seine Gedanken wichen immer wieder aus, schwirrten hierhin und dorthin, blieben nie lange genug, irrten mit der Zeit, aber ließen keine Zeit, um zu erkennen.
Sie lag neben ihm. Er fühlte sie.
Die Uhr an der Wand tickte und es klang wie ein Hämmern in seinem Kopf. Er drehte den Kopf ein wenig zum Fenster hin. Den Blick immer noch nach oben gerichtet, wollte nur hören.
Das Rauschen des Meeres drang zu ihm, flüsterte leise, als sandte es Botschaften, die nur ihm galten. Er lauschte in die Ferne, versuchte dem Meer zuzuhören, das ihn rief. Er war sich sicher, das Meer wollte ihm etwas mitteilen.
Anbrandende Wellen, die Worte, mit sich führten, verlangten nach ihm, lockten, doch er konnte sich nicht konzentrieren, lag nur unbeweglich und blickte an die graue Decke, nicht fähig nur einen der irrlichternden Gedanken einzufangen.

Das Meer klagte flüsternd, doch der Ort lag noch gänzlich still, wusste nichts von dem stillen Vertrag mit dem Meer, wusste nichts von dem Raum in der kleinen Pension oberhalb vom Hafen. Lag in ahnungslosem Frieden, ruhig und wartete auf den anbrechenden Tag, auf das Leben.
Eine Möwe schrie. Irgendwo.
Er seufzte leise. Ein Wispern mehr. Sein Atem entwich fast unhörbar. Er stockte. Lauschte. Hörte diesmal nichts. Nicht einmal das Meer.
Ein paar Sekunden hielt er mit dem Atmen inne, dann schloss er die Augen.

Der Raum bewegte sich nicht. Er lag still. Nichts. Keine Bewegung. Kein Laut. Kein Gedanke. Er schien nicht mehr zu existieren. Die Welt um ihn herum hatte aufgehört sich zu drehen. Nichts war mehr. Nur der Sog, der ihn lähmte. Der ihn nach unten zog, jede Regung in ihm erstickte.
Zeit? Welche Bedeutung hatte Zeit? Heute? Warum heute? Gestern? Gestern war noch Licht gewesen. Zeit. Licht? Jahre? 30 Jahre. Ein Leben. Die Gedanken kehrten zurück. Langsam, aber doch.
Und das Licht. Irgendwie grau.
Blinzelnd öffnete er die Augen. War es Tag? Nacht? Seine Augen wanderten zur Jalousie. Jedes Bewusstsein für Zeit war ihm abhandengekommen.
Ein matter Schein kroch zwischen den Lamellen hindurch und wanderte in Richtung des Bettes. Morgenlicht? Der Morgen musste zurückgekehrt sein.
Nur das Leben würde nicht mehr zurückkehren. Ihr Leben war seines. Das war die Wahrheit.
Er schloss die Augen wieder und lag ruhig.

Wo kam er her? Angestrengt lauschte er in sich hinein.
Das Haus in der Heimat tauchte für den Bruchteil einer Sekunde vor ihm auf. Waberte aus einer schwarzen Vergangenheit hoch und erschien ihm plötzlich real. Er sah die Umrisse, groß vor einem blauen Himmel, betrachtete die Terrasse, die Blumenvase auf dem Tisch, lachsfarbene Blumen.
Es war alles so ruhig. So klar, deutlich vor ihm. Noch einmal schritt er durch den Garten, ihren Garten, roch die Düfte, berührte das Grün, sah das Leuchten des Flieders, spürte ihre Hand auf seiner Schulter und blickte in ihr Lächeln.
Aus dem Haus erklang leise Musik. Ein Gefühl überkam ihn, dass ihn für kurze Zeit erkennen ließ, wer er war, woher er kam. Und für diesen einen Moment war er wieder zu Hause. So gut, so warm. So erklang es in seinem Innern. Spiegelbild vergangener Zeit. Die Zeit seines Lebens. Gemeinsam. Eins.
Er bewegte einen Arm. Seine Finger berührten Ihre Schulter, nur leicht und wie zufällig. Er konnte sie spüren. Sie war da. Immer noch. Lag neben ihm. Er berührte sie nur, fühlte mit den Fingerspitzen, hielt die Augen weiterhin geschlossen.

Wie lange waren sie schon in diesem Zimmer. Eine Woche? Zwei? Vielleicht drei?
Er erinnerte sich der Tage des Lichts. An die Zeit vor der Zeit des Abschieds. Sah sich sitzen, neben ihr, auf dem Balkon, hinunter aufs Meer blicken. Kleine Segelboote tanzten auf den Wellen, wie Schmetterlinge, die über bunte Wiesen flatterten, als hingen sie an einem Mobile, von unsichtbaren Fäden gehalten.
Wie oft saßen sie, stundenlang, ohne Worte, sahen nur hinunter auf den kleinen Platz am Hafen, beobachteten, wie am Morgen die Tische und Stühle gerichtet wurden, wie langsam das Leben die Stille der Nacht verdrängte. Sahen, wie sich Tag für Tag alles wiederholte. Markisen wurden ausgefahren, Kellnerinnen in sauberen Schürzen legten weiße Tischdecken auf, rückten Stühle zurecht, drapierten Blumengestecke. Menschen kamen, gingen.
Der alte Mann, der die Zeitung holte, jeden Morgen, sich neben dem Restaurant unter ihnen auf der Bank niederließ und rauchte, bevor er sich wieder erhob, etwas mühsam und dann mit seiner Zeitung, ein Bein hinterherziehend, in der nächsten Gasse verschwand.
Sie saßen und beobachteten und manchmal blickten sie sich an. Als suchten sie Halt. Suchten in ihren Erinnerungen! Und sie sagte, weißt du noch. Und er nickte, bitter lächelnd und wollte sich doch nicht anmerken lassen, wie sehr es ihn zerriss. Und ihr Schmerz wurde zu seinem. Fraß an ihm, nagte an seinen Eingeweiden. Das Lächeln erstarrte, starb, und sein Blick suchte dann irgendeinen Punkt unten, weit weg, in den Gassen der Stadt. Als könnte er den Schmerz da unten irgendwo im Schatten des nächsten Torbogens verschwinden lassen. Er wollte schreien, blieb stumm und schluckte.
Die Stadt erwachte jedes Mal, das Leben nahm seinen eigenen Rhythmus auf. Das Klingen der Gläser, das Flirren der Luft, ausgelassenes Lachen, die Lust auf den nächsten Tag, auf das pure Leben, all das würde für sie nunmehr nicht mehr sein.

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