Isolation

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Ich hielt den Atem an und beugte mich noch näher an den Spiegel heran. Mit Zeigefinger und Daumen spreizte ich mein oberes und unteres Lid. Die Röte rund um meine Iris hatte sich ausgebreitet. Noch vor wenigen Tagen waren meine Adern einfache Verzweigungen von dünnen, roten Fäden gewesen. Jetzt hingegen erinnerten sie an dichte, sich in alle Richtungen verteilende Efeuranken. Meine Auge begann zu jucken. Dem Impuls widerstehend, es zu reiben, beugte ich mich stattdessen noch näher an den Spiegel heran. Etwas rekelte sich. Etwas, das nicht größer als ein Gerstenkorn war. Und bevor ich es genauer fokussieren konnte, war es wieder in meinem Augapfel verschwunden. Ich schrak zurück.

Wir, sagte meine Stimme im Kopf. Ich hielt inne und starrte mich immer noch von Weitem an. Mein Brustkorb prickelte. Ich schluckte es herunter und ging zu dem schwarzen Knopf neben dem Lichtschalter. Eine Sprechanlage war direkt darüber angebracht. Ich hielt den Knopf gedrückt und lehnte meine trockenen, aufgeschürften Lippen daran.

„Kommt schon Leute, acht Tage sind genug. Immuner kann ich nicht werden." Ich versuchte gelassen zu klingen, sodass man mein Lächeln bereits in der Stimme hörte. Stattdessen wirkte ich wie eine Drogenabhängige auf eiskaltem Entzug. Ein Piepen ertönte, dann ein Kratzen.

„Eileen, wir müssen uns an das Protokoll halten-"

Ich stimmte mit der älteren Dame ein: „Das mindestens zehn Tage Quarantäne besagt."

Genervt verdrehte ich die Augen. Das Kratzen in den Lautsprechern verstummte wieder.Lustlos schlurfte ich zurück in ihr Schlafzimmer. Alles war modern und steril. Auf dem runden Nachtschrank lag ein Schraubenzieher. Ich lief hin und dachte nach. Ein Schraubenzieher passte nur an einer winzigen Stelle an eine Schraube. Vielleicht wäre er woanders besser aufgehoben, passender. Meine Finger prickelten, als würden tausend Staubkörnchen auf der Hautoberfläche tanzen. Ich fuhr über den glatten Griff und umfasste ihn schließlich. Gedankenlos hob ich den Arm. Und schob den Schraubenzieher langsam in mein Ohr hinein. Etwas platzte, es schmerzte furchtbar, aber ich schob weiter bis-

Passend.

Ich schreckte zurück und fand mich wieder am anderen Ende des Raumes. Der Schraubenzieher lag immer noch auf dem Nachtschrank. Instinktiv fühlte ich über mein Ohr. Kein Blut, kein Platzen. Ich war kerngesund, quicklebendig.

Unauffällig schielte ich zur Kamera in die Ecke hinauf.

Ob das wohl als Symptom gewertet wird?, fragte ich mich. Diesmal erschien mir die Stimme natürlicher als zuvor.

Die Whiskeybar neben dem riesigen Flachbildschirm zog meine Aufmerksamkeit auf sich.Einen Drink vorm Schlafen gehen zu sich zu nehmen erschien mir herrlich normal. Ich zwang mich geradewegs zur Bar ohne der Videokamera die geringste Beachtung zu schenken.

Niemand, der Angst hatte, die Kontrolle zu verlieren, würde diese Bar anrühren. Der Gemeinschaft entging das sicher nicht.

Ich füllte ein Glas mit Eiswürfeln. Meine Hand wanderte planlos zwischen den fünf Flaschen hin und her. Letztendlich entschied ich mich für den wahrscheinlich billigsten – Writers Tears.

Ich nahm einen genüsslichen Schluck. Die Schärfe breitete sich auf meiner Zunge aus, bis ich endlich bereit war herunter zu schlucken. Zumindest in der Theorie. Das Brennen steigerte sich.

Wir sind der Genuss, flüsterte etwas in mir, das sich wie ein Nachhall zusammengesetzt aus verschiedenen Stimmen anhörte. Und dennoch - im Endeffekt blieb es meine eigene.

Krampfhaft versuchte ich meine Speiseröhre zum Kontrahieren zu bringen.Inzwischen fühlten es sich an, als würde jemand mit einem Messer über meine Zungenoberfläche schaben. Wenn ich den Whiskey nun ausspuckte, wäre das Experiment endgültig vorbei. Also riss ich mich zusammen und versuchte zu widerstehen. Meine rauen Lippen zitterten. Ich spürte, wie mein Körper nachgab. Die Augen tränten,meine Nase lief. Das scharfe Hochprozentige floss aus meinen Mundwinkeln hinaus.

Jemand applaudierte. Dunkelheit umschloss mich. Alles drehte sich, als würde sich etwas in mein Selbst einschleichen – in unser Selbst.


Wir sind so stolz auf uns, sprachen wir in unseren Kopf.

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