Ich werde vom Zwitschern der Vögel geweckt und Wärme ringt in mein Zimmer. Ich habe stets die Rollladen geschlossen, dennoch drängen sich einzelne Strahlen in mein Zimmer und erwecken das Dunkle zum Leben. Ich rolle mich auf die Seite, verstecke mich vor den Sonnenstrahlen. Ich bin noch nicht bereit für den neuen Tag. Ich schließe meine Augen, hoffentlich schlaf ich nochmal ein. Im Kopf gehe ich durch, was auf meiner To-Do-Liste steht. Duschen, Frühstücken, an meiner Hausarbeit weiterschreiben und einkaufen gehen. Aber wenn wir mal ehrlich sind, werde ich davon nichts erledigen. Seit Tagen habe ich meine kleine Wohnung nicht mehr verlassen und ich kann mich einfach nicht erinnern, wann ich das letzte Mal geduscht habe. Vielleicht vor 5 Tagen? Ich weiß es nicht, aber ich sollte dringend mal wieder duschen. Zumindest sollte ich es vor nächsten Montag geschafft haben zu duschen. Montag. Der Tag, an dem die Uni wieder losgeht. Außerdem sollte ich bis dahin meine Hausarbeit fertig haben, um nicht den Kurs erneut belegen zu müssen. Realistisch gesehen wird mein Tag wie folgt ablaufen: Ich werde noch eine weitere Stunde im Bett verbringen, weil ich noch keine Kraft habe, endlich aufzustehen, sodass ich mich über mich selbst ärger, weil ich es nicht geschafft habe, vor 12Uhr aufzustehen. Dann werde ich mir Frühstück machen. Ungesunde Cornflakes, obwohl ich mir extra gesunden Joghurt gekauft habe. Anschließend werde ich verzweifelt vor dem Spiegel stehen und mir Vorwürfe machen, weil ich immer dicker werde. Anschließend lege ich mich wieder in mein Bett und weine verzweifelt, weil ich mich einfach nicht mehr ausstehen kann. Aber vielleicht wird dieser Tag anders? Ich bezweifle es. Ich drehe mich um und suche blind nach meinem Handy unter meinem Kissen. Verwundert schaue ich auf die Uhr. Es ist tatsächlich erst 8:47Uhr. In den letzten Wochen bin ich keinen Tag vor 11Uhr aufgewacht. Nicht dass es mich wundert. Mein Schlafrhythmus war schon immer etwas... anders. Im Normalfall schlafe ich erst gegen 4Uhr ein. Nachts bin ich einfach produktiver und schon zu Schulzeiten habe ich fast bis zum Morgengrauen an meinen Hausaufgaben gesessen, weil ich tagsüber zu viel zu tun hatte. Jedoch hatte ich damals nie Probleme, früh aus dem Bett zu kommen und war meistens vor allen anderen am Wochenende wach. Mein Handy zeigt neue Nachrichten aus drei verschiedenen Chats. Eine Nachricht ist von meiner Schwester, in der sie erneut fragt, ob ich vor dem Semesterstart nochmal in die Heimat fahre. Die anderen zwei sind Gruppenchats. Den Chat mit meinen Kommilitonen ignoriere ich meistens, da dort selten wichtige Nachrichten geschickt werden. Momentan schreiben viele darüber, welche Kurse sie dieses Semester belegt haben und wen man dort treffen wird. Der dritte Chat war sehr lange eher still. Er besteht aus meinen vier Freundinnen und sie berichten, dass sie entweder wieder zurück in der Uni-Stadt angekommen sind oder wann sie ankommen werden. Meine vier Freundinnen hatten einen erlebnisreichen Sommer hinter sich, in denen sie im Urlaub waren, Zeit mit dem Freund und der Familie verbrachten oder sogar einen Sprachkurs belegt haben. Sie waren so schlau und haben ihre Abgaben schon zu Beginn der Semesterferien fertiggestellt. Ella und Ruby sind wohl gerade auf dem Weg zurück nach Greenhill und Hannah kam gestern spät abends an. Nur Lia wird erst morgen wieder da sein. Jede schreibt, wie sehr sie sich auf ein Wiedersehen freuen. Sieben Wochen ohne einander wären ein viel zu lange Zeit gewesen, schreibt Hannah. Wir müssten endlich wieder einen richtigen Mädelsabend machen, da wir uns so viel zu erzählen hätten, pflichtet Lia ihr bei. Ja, sieben Wochen waren eine lange Zeit. Eine lange Zeit, in der viel passiert ist. Seit fünf Wochen habe ich jeden Tag in meiner kleinen Wohnung verbracht und habe meinen Rückzugsort nur ab und zu zum Einkaufen verlassen. Vor fünf Wochen bin ich aus meiner Heimat zurückgekommen und habe mir meine Freundinnen so sehr hierher gewünscht, aber jetzt, wo sie alle wieder da sind, wünschte ich, ich könnte mich für immer alleine in meiner Wohnung verkriechen. Ich weiß, dass sie für mich da gewesen wären, wahrscheinlich wäre Ella und Ruby sogar vorbeigekommen, um mich durch diese schwere Zeit zu begleiten, hätte ich ihnen erzählt, was passiert ist. Die beiden wohnen nur knapp 150 Kilometer entfernt von Greenhill, während Lia aus London kommt und Hannahs Eltern sogar nicht mal in England wohnen. Aber ich mag es nicht und mochte es auch noch nie, wichtige Neuigkeiten - positive, wie negative - einfach per WhatsApp zu schreiben. Wenige meiner Mitmenschen wissen wirklich, wie es mir geht oder was in meinem Leben passiert, denn ich habe einfach keine Ahnung, wie man gewisse Dinge schreibt oder gar ausspricht. Aber diese eine Neuigkeit werde ich ihnen wohl erzählen müssen, wenn wir uns sehen. Als ich erneut auf mein Handy schaue, sehe ich, dass sie schon einen Plan für morgen Abend festgemacht haben und auch schon dreimal nachgefragt haben, ob ich einverstanden wäre, schließlich wollen sie sich hier treffen. Eigentlich habe ich meine Freundinnen gerne bei mir, aber momentan stresst mich allein der Gedanke daran, sie morgen hier zu haben, weil ich bestimmt seit drei Wochen nicht mehr aufgeräumt und geputzt habe. Leider werde ich mich nicht davor drücken können. Meine Wohnung ist am zentralsten, sodass wir zu Fuß in die Innenstadt kommen und außerdem hat meine Wohnung einen so großen Balkon, wo sogar ein Esstisch draufpasst, sodass wir gemütlich essen können, während uns die letzten Sonnenstrahlen des Tages ins Gesicht scheinen. Ohne mir meine Zweifel anmerken zu lassen, stimme ich zu. Ich möchte sie ohnehin nicht enttäuschen, sie freuen sich so sehr auf den gemeinsamen Abend.
In den nächsten Stunden klären sie untereinander ab, was wir essen und wer was mitbringt. Ruby kümmert sich um die Getränke, was nie was Gutes heißt. Wenn Ruby das Trinken besorgt, ist es quasi schon vorprogrammiert, dass eine betrunkener als die andere sein wird. Normalerweise hätte ich mir meine Getränke selbst mitgebracht, da ich nicht besonders trinkfest bin und wirklich jedes Mal die erste bin, die kotzen muss, aber das ist mir jetzt egal. Hauptsache es haut rein. Die Zeiten haben sich geändert. Seit fünf Wochen habe ich kaum einen Abend nüchtern verbracht. Bei dem Gedanken fällt mir ein, dass ich dringend meine leeren Flaschen Weißwein und Rum wegschmeißen sollte. Eigentlich trinke ich am liebsten Bier, aber ein Bier trinkt man genüsslich mit Freunden. Im Pub, am Strand oder bei der Schwester auf dem Sofa. Nicht alleine im Bett, wenn man nur ein Ziel hat. Das Ziel, die Welt und das Geschehene so schnell wie möglich zu vergessen. Von Bier wird man nicht betrunken genug, man verbringt die meiste Zeit nur damit, alle 10 Minuten auf Toilette zu rennen. Wenn ich Wein trinke, reichen mir meistens schon 2 Gläser, bis die Welt wieder schön ist. Naja, auch das hat sich in den Wochen verändert. Letzte Woche habe ich erst bei der zweiten Flasche dieses wunderschöne, beschützende Gefühl gehabt, dass alles wieder irgendwie gut werden könnte. Leider hielt dieses Gefühl nicht lange an und meine Stimme ist schlagartig umgekippt und ich erinnere mich nur noch wage daran, dass ich ungefähr zwei Stunden lang auf meinem Boden verzweifelt geweint habe. Über die Jahre habe ich viele Entspannungsmechanismen ausprobiert. Einige haben gut funktioniert, andere jedoch gar nicht. Die, die gut funktionierten, waren leider die, die meine Mitmenschen eher als Selbstzerstörungsmechanismen ansehen. Aber das interessiert mich heute auch nicht mehr. Wen interessiert es schon, ob auf meinem Körper eine Narbe mehr oder weniger ist.

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Vergessen
Teen FictionMartha kämpft schon ihr ganzes Leben gegen ihre Depressionen, ihre innere Stimmen und all den Hass, den sie in ihrer Vergangenheit hatte spüren müssen. Irgendwie hat sie es immer wieder auf die Beine geschafft und sich nach Außen nichts anmerken las...