Das Wasser stieg immer weiter an, bald bis zu den Knöcheln.
"Lucylein? Wärst du so gut deine Tasche ein wenig hochzuheben? Es wird ein bisschen nass hier drinnen."
"Wir können ja handeln. Du kriegst keinen nassen Hintern und ich eine Lösung. Wie ist das?"
"Ich habe keinen Hintern...", murmelte der Schädel beleidigt.
"Würdest du dich bitte ein kleines bisschen beeilen? Ich mag nasse Hosen nicht."
"Und Geister mögen Silber nicht. Auch das Wasser, das sie bewegen nicht. Ja eigentlich schon erstaunlich, dass unser verehrter Doktor von und zu Chef-Agent da noch nicht drauf gekommen ist.", ich schlug mir mit der Hand vor die Stirn.
"Eisenspäne Lockwood!", rief ich, aber er schüttelte den Kopf: "Vergessen..."
"Oh... Das ist jetzt aber unpraktisch."
"Ach ne! Sag bloß.", fuhr ich den Schädel an und schon tat es mir Leid.
"Pass auf Madame.", sagte der Schädel leise. "Es könnte sein, dass ich dein Ticket nach draußen bin. Wenn es doch nur eine Lösung für diese vertrackte Situation gäbe..."
"Los!", fuhr ich den Schädel an. "Mach schon." Das Wasser stand uns schon bis zu den Knien.
"Du hast mich in einem dicken Silberglas eingesperrt, vielleicht hast du's schon wieder vergessen. Wenn ich nicht schon tot wäre würde ich mich garantiert zu Tode langweilen."
Langsam wurde ich nervös: "Er will, dass ich ihn aus seinem Glas lasse."
Lockwood sah mich fragend an. Das Wasser rauschte immer lauter. Es war keine Zeit für Erklärungen. Ich öffnete den schon völlig durchnässsten Rucksack, riss das Silberglas heraus, in dem sich der Schädel mit vor Freude blitzenden Augen die Nase am Glas plattdrückte. Ein lächeln spielte um seine Lippen und helles Anderlicht umgab ihn. Ich zog ein Ersatz-Shirt aus dem Rucksack, wickelte das Glas ein uns schmiss es mit aller Kraft gegen die Decke der Gruft. Das erwartete Klirren blieb aus. Stattdessen prallte das Glas ab und klatschte laut auf das Wasser in der Gruft. Um ein Haar hätte es Lockwoods Schulter erwischt. Er griff nach dem Glas und wollte wieder versuchen es gegen die Decke zu schlagen, doch das Wasser stand schon so hoch, dass er nicht mehr nach unten ausholen konnte. Er sah mich an und einmal mehr bewies sich, wie gut wir als Team Hand in Hand arbeiten konnten. Er warf mir das Glas zu, tauchte und setzte mich auf seine Schultern. Mit einer Hand hielt ich das Silberglas, mit der anderen seinen Kopf. Ich holte aus, schlug das Glas nochmal gegen die Decke und diesmal funktionierte es. Ein dumpfes Klirren ertönte und das Glas fiel wieder laut klatschend ins Wasser. Ich konnte gerade noch sehen wie ein kleiner Fetzen Anderlicht aus dem Glas empor schwebte und langsam einen Körper bildete. Dann verlor ich das Gleichgewicht und viel rückwärts zurück ins Wasser. Das Wasser war unglaublich kalt, ich spürte meine Beine kaum noch. Als ich wieder auftauchte sah ich ihn. Da war er wieder. Der große dünne, fast schon gebrechlich wirkende Jugendliche mit struppigen dunklen Haaren. Er drehte den Kopf und lächelte mir freundlich zu. Nichts war mehr übrig von der gehässigen, besserwisserischen Fratze im Geisterglas. Er drehte sich wieder nach vorne und hob langsam die Hände. Das Wasser fing an sich zu bewegen. Als hätte jemand einen Stöpsel gezogen und der schlaksige Geisterjunge wäre das Abflussrohr. Er bewegte sich langsam nach vorne, immer weiter in den Tunnel und das Wasser folgte ihm. Bald reichte mir das Wasser nur noch bis zur Hüfte und ich begann am Boden der Gruft nach dem kaputten Glas zu tasten. Es dauerte keine zwei Minuten, bis der ganze Raum leer und trocken war. Nur unsere schlammverschmierten Gesichter und durchnässten Klamotten erinnerten an das, was hier vor ein paar Minuten passiert war.
Nach kurzer Zeit war der Geist wieder da. Ihm war keine Anstrengung anzusehen. Aus dem glatten blassen Gesicht sah er Lockwood und mich an: "Gern geschehen.", sagte er leise und seine dunklen Augen leuchteten freundlich auf. "Darf ich euch beide noch raus begleiten?"
"Aber klar, danke.", kam Lockwood mir zuvor. Ich sah ihn entgeistert an: "Du kannst-"
"Er kann.", sagte der Junge ein wenig belustigt lächelnd. "Ich entscheide, wer mich hört und wer nicht. Und nur dass das klar ist, Cubbins erfährt davon nichts, okay? Sonst foltert dieser Verrückte mich wieder so lange, bis ich mit ihm rede."
Ich nickte grinsend. Der Junge glitt nach vorne, von Anderlicht umgeben, geradewegs durch die Wand hinter uns und kaum berührte er sie, verblassten die Steine und verschwanden bald vollends. Staunend sahen Lockwood und ich dem Geist zu, wie er immer mehr Steine verschwinden ließ und schließlich den nächtlichen Friedhof erreichte. Warme Nachtluft strömte herein. Wir sahen uns an und gingen langsam die Treppe hinauf zu dem Geisterjungen, der draußen auf uns wartete. Ich sah das Glas in meiner Hand an und dann den Schädel, beziehungsweise den blassen, dünnen Jungen vor mir.
"Ich verstehe schon", murmelte er und seufzte theatralisch. "Undank ist der Welten Lohn. Wärst du wenigstens so nett das Matschwasser da raus zu gießen? Ein bisschen angenehm will ich es auch haben."
Ich nickte dankbar und goss das Wasser neben mich auf den Rasen. Der Junge wurde immer blasser. Zuerst verschwanden Arme und Beine, dann der Oberkörper und zuletzt der Kopf, bis er nur noch eine kleine schwebende Kugel Anderlicht war, die sich langsam in das Silberglas bewegte. Das Loch im Glas glühte blau auf und schmolz wieder zusammen. Aus dem Glas grinste der Schädel mich zufrieden an.
"Luce? Wir sollten uns was anderes anziehen. Wenn wir die kalten Sachen anbehalten, sind wir morgen beide krank."
Ich nickte, aber dann mir fiel etwas auf: "Ich hatte doch mein Ersatz-Shirt um das Glas vom Schädel gewickelt. Ich muss nicht unbedingt nass und ohne Oberteil durch London rennen."
Lockwood grinste: "Nimm meins. Ich hab ja noch den Mantel."
Ich zog mir mein T-Shirt über den Kopf und Lockwoods an. Wie zu erwarten war es mir ein paar Größen zu groß, aber immerhin war es in dem wasserdichten Rucksack fast trocken geblieben. Lockwood hängte sich seinen Mantel um, packte sein T-Shirt in den Rucksack, stand auf und ging mit mir zum Ausgang des Friedhofs. Am Regent's Park legte er mir die Hand auf die Schulter und Arm in Arm gingen wir zurück nach Hause.
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Lockwood & Co. - Das kreischende Bild
FanfictionIch sah gerade noch wie sich aus einem weißen Fetzen Anderlicht lange Dürre Arme und Beine formten, von denen die Reste einer karierten Hose und ehemals weißen Schürze herab hingen. Die Pupillen waren verschwommen und grau und die Haut hing von den...