Kapitel 1 - Mutter

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Miese, alte Schlampe!, dachte er, als er das Krankenhaus betrat. Warum musste sie ausgerechnet jetzt abkratzen? Es war schon nach 21 Uhr, als er den Anruf bekam, der ihn herorderte. Jetzt war es halb elf und er hätte seinen Samstagabend auch anders, schöner verbringen können. Jedoch hatte ihm das Schicksal einen gehörigen Strich durch die Rechnung gemacht. Er musste jetzt nicht weitergehen. Er konnte umdrehen und sich nach Hause stehlen. Niemand würde es erfahren, oder interessieren. Nur eine Person kannte ihn in diesem Gebäude und diese Person würde ihn nicht mehr lange kennen können.

War er jetzt wirklich schon so tief gesunken? Dachte er gerade wirklich darüber nach, seine im sterben liegende Mutter allein sterben zu lassen? Ja das tat er, warum denn auch nicht? Sie war doch nie für ihn da gewesen und warum sollte er jetzt für sie da sein.

Seiner Ansicht nach war der Tod die Endstation. Danach kam nichts mehr und man musste den Zug für neue Pasagiere in einer neuen Fahrt räumen. Warum sollte man jetzt für jemanden da sein, nur damit der den Zug ihn Frieden verlassen konnte, wenn dieser Jemand einen die ganze Zugfahrt über genervt hat? Und es stiegen immer mehr Pasagiere zu, als aus. Irgendwann war der Zug sicher voll, vielleicht 2020, vielleicht 2030 oder vielleicht auch erst in 500 Jahren. Jetzt war wieder ein Pasagier im Inbegriff den Zug zu verlassen und das war ihm egal. Dieser Pasagier bedeutete ihm so viel wie ein stinkender Penner, der besoffen in irgendeiner Ecke an seiner eigenen Kotze erstickt. Dieser Pasagier hatte ihn zwar in den Zug gezogen, aber sehr dankbar war er ihm nicht. Viel lieber hätte er den Zug an sich vorbeirauschen sehen.

Als er an der Neugeborenenstation vorbeikam, dachte er bei sich: Für einen von euch wird gerade Platz gemacht. Einer von euch kriegt einen frischen Sitzplatz im Zug. Was für eine Zugfahrt das wohl für denjenigen werden würde? Würde er als Abfall der Gesellschaft in der Gosse landen oder täglich die Millionen an der Wall Street hin und her schieben? Egal was, es interessierte ihn nicht. Warum auch? Würde er als Penner enden, könnte er nichts für ihn tun und würde er als Wall Street Tier enden, würde er von oben auf ihn spucken.

Ich stand vor ihrem Zimmer und wusste nicht, ob ich eintreten sollte. So stand ich da wohl eine ganze Weile. "Damy?" sagte ihre schwache, kratzende Stimme. "Ja Mutter?", sagte er, als er bemerkte, dass er etwas im Hals hatte, dass auf seine Stimmbänder drückte, sodass er sich räuspern musste um nicht wie jemand zu klingen, dem grad der Kehlkopf eingeschlagen wurde. "Komm doch bitte rein, mein Liebling!" So hat dieses alte Miststück mich während meiner gesamten, verschissenen Kindheit nie genannt! Er tat es. "Damy, mein Liebling,..." Schon wieder "...ich glaube meine Zeit ist gekommen.", sagte sie und "Damy" sah den Tod in ihrem Gesicht. Sie hatte wenig Haare auf dem Kopf. Die, die ihr noch geblieben waren hingen in grauen Strähnen wie Spinnenweben nach unten. Außerdem hatte der Blutkrebs sie total abgemagert und sie sah noch schlimmer aus, als in seiner Jugend.

"Nein Mutter, du stirbst uns schon nicht. Du wirst noch'n bisschen bleiben.", was gelogen war, "Wir werden schon noch was miteinander machen können und da freu ich mich drauf!", was ebenfalls gelogen war. Warum war er eigentlich so nett zu diesem Biest. Sie hatte ihn seine gesamte Kindheit über gepiesackt. Eigentlich konnte sie froh sein, dass er sie überhaupt besucht hatte, sonst wäre sie allein gestorben. Warum musste er jetzt unbedingt auch noch nett sein?

"Wo ist deine Schwester? Wo ist Amy? Kommt sie denn auch noch?" In ihrer Stimme lag Sehnsucht. Amy? Seine Schwester war doch mit 17 bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen und das war fast 20 Jahre her. Verdammte Scheiße, hat die alte Schachtel vom Krebs jetzt auch noch Demenz gekriegt? Er spielte mit. Dass er log, würde sie nie herausbekommen. "Amy sagte, sie würde sich beeilen und sie wäre in einer viertel Stunde da." Ihr Gesicht wurde trauriger. "In einer viertel Stunde wird es aber schon zu spät sein.", sagte sie und begann zu weinen.

"Damy, ich habe solche Angst!", sagte sie bis ihre Stimme im letzten Wort abbrach. Auch er hatte Angst gehabt. Angst, wenn er aus der Schule kam und wieder nur ein "ungenügend" geschafft hatte. Angst, davor dass seine Mutter ihn so blau schlug, dass er sich tagelang nicht ohne Schmerzen bewegen konnte und sie in der Schule anrufen musste um zu sagen, dass ihr ach so kränkliches Kind über 40° Fieber hatte. "Damy" war kein kränkliches Kind. Er war eigentlich über seine ganze Kindheit hinweg nur ein oder zwei Mal krank gewesen, die anderen 2 Dutzend Male, in denen er krankgeschrieben war, lag er mit einem fast komplett blauen Körper umgeben von Eis im Bett. "Na so können wir dich ja zu den Schlümpfen bringen!", hatte seine Mutter immer gesagt, um wieder freundlich mit ihm zu kommunizieren und lachte dabei. Er hatte während seiner gesamten Kindheit nicht einmal gelacht.

"Du brauchst keine Angst zu haben, Mutter. Sowas geht ganz schnell und schmerzfrei." "Aber ich habe schon so schlimme Schmerzen." Wen interessiert's? "Ich rufe eine Schwester, die soll dir ein Schmerzmittel geben.", sagte er und drückte den Knopf über ihrem Bett. "Hast du mir Blumen mitgebracht?" Verdammte Scheiße, ich bin am Samstag Abend in dieses scheiß Krankenhaus gegangen um dir beim krepieren zuzusehen, ich hab nicht noch mein letztes Geld irgendeinem verpissten Floristen zugeschmissen, damit du vor deinem Tod noch Blumen sehen kannst. Ich kann ja jetzt noch raus und Gänseblümchen pflücken und wenn ich wieder reinkomme bist du tot! ENDLICH! "Es tut mir leid, Mutter. Dazu hatte ich keine Zeit mehr." Aus irgendeinem Grund wich die Traurigkeit in ihrem Gesicht der, ihm allzu bekannten, Arroganz, die dieses Gesicht immer in seiner Kindheit gezeigt hatte. "Das ist schade. Habe ich doch in deiner Kindheit so viel Zeit für dich gehabt!" Hattest du nicht, du hast lieber mit irgendwelchen Typen, die du in der Bar kennengelernt hast, rumgefickt. Du warst doch mit jedem in der Stadt damals mindestens einmal im Bett. Schlampe! Jetzt, war wieder die Traurigkeit in ihrem Gesicht. Als ob sie seine vorwurfsvollen Gedanken lesen konnte. Wo blieb eigentlich die Schwester? "Ach Damy, ich wollte dir noch so viel sagen. Zum Beispiel war dein Vater ei..." Ihr Gesicht erstarrte und er wunderte sich, was jetzt los war. Als er ihre Hand ergriff wusste er es. Wow, das ging jetzt aber schnell.

Seine Mutter war gerade gestorben. Darüber war er nicht froh, aber auch nicht traurig. Es war ihn egal. Täglich sterben Menschen, heute einer mehr... ok.

Schritte auf dem Gang. Eine afroamerikanische Schwester stand wenige Augenblicke später in der Tür. "Entschuldigung, dass ich nicht schneller da gewesen bin, ich hab das Licht nicht gesehen. Was gibt es?" "Misses Ellen Knockledge ist gerade gestorben." Einer hat den Zug verlassen.


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⏰ Last updated: Apr 15, 2020 ⏰

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