Kapitel 1

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Das trübe, schmutzige Wasser des Canale Grande schwappte über den Steg, der zu dem windschiefen Palazzo führte. Das Vaporetto, dass die Bugwelle ausgelöst hatte, schob sich langsam durch das, in der Dämmerung schattenhaft wirkende, Venedig. Passagiere schwatzten an Deck, manche hatten noch immer ihre Kameras bereit, um Stimmungsvolle Schüsse zu machen.

Das Wasser um das Boot wurde von den Lampen im Inneren schwach beleuchtet. Doch selbst an den hellsten Tagen konnte man niemals auf den Grund des großes Kanals sehen. Zu dunkel und trüb war das Wasser. So belebt die Stadt in den Abendstunden auch war, so viele Touristen sich noch immer am Markusplatz drängten, soviel die Boote auch noch den Schlamm am Boden des Kanals aufwühlen würden, niemand ahnte, was wirklich dort unten lag.

Es gab alte Legenden, Sagen, Schauermärchen von dem, was da unten war. Bei Restaurierungsarbeiten hatten manche Arbeiter, die die Pfosten kontrolliert hatten, angeblich einen riesigen, schlangenähnlichen Schatten gesehen, der sich den Kanal entlanggewunden hatte. Man sprach von einem riesigen Drachen, der sich den gesamten Kanal entlangwand.

Es hieß, er würde die Stadt beschützen. Wovor, das wusste niemand. Doch es musste etwas dort unten geben, dass viel gefährlicher, viel zerstörender und verheerender als jeder Brand und jede Flut sein musste. Verborgen von dem trüben, schmutzigen und dunklen Kanalwasser, zu tief vergraben im Schlamm, um es je zu erreichen.

Doch was, wenn es von selbst einmal kam? Wenn sich der Kanal einmal zu viel hob, wenn die riesige Schlange nicht ausreichte? Was mochte dann geschehen? Niemand konnte es sagen. Nur der Kanal wusste es. Ebenjener Kanal, der nun schon fast den Steg flutete.

Das Vaporetto verschwand langsam, und mit ihm das Licht. Natürlich war der Kanal von vielen Fenstern erhellt, doch der Abschnitt vor dem schiefen Palazzo lag dunkel da. Niemand wohnte darin. Das Gebäude war zwar nicht einsturzgefährdet, und doch nicht bewohnt. Es hieß, dass dort Gespenster und schattenähnliche Wesen des Nächtens ihr Unwesen trieben. Niemand traute sich nach Anbruch der Dunkelheit noch dorthin.

Aus dem Bogen der Wassereinfahrt löste sich ein weiterer Schatten. Gemächlich schritt er den Steg entlang. Langes, dunkles Haar wehte in einer leichten Briese. Langer, aufwändig drapierter Stoff schliff and den Steinen entlang. Hohe Absätze klackerten, als sie von dem Stein auf die Holzplanken traten. Edelsteine blitzten in dem schwachen Rest Licht auf. Stoff raschelte, Perlen klirrten, als die Gestalt sich bückte.

Als sie sich wiederaufrichtete, blitzte etwas in ihrer Hand auf. Für den Bruchteil einer Sekunde konnte man eine goldene Maske, ein altertümliches Kleid, Schmuck und Federn erkennen. Dann erlosch das Licht. Wie ein Blitz, hinterließ es noch dunklere Schwärze als zuvor. Von dem Kanal konnte man plötzlich das leise Platschen einer Gondel hören. Ein Gondoliere, nicht, wie sonst in ein weiß-blaues oder weiß-rotes Gewand, sondern in ein schwarz-goldenes gekleidet lenkte eine schwarze Gondel auf den Steg zu.

Verziert mit einem goldenen Ferro, goldenen Wellen und goldenen Fischen glitt sie langsam dahin. Beim Anlegen an den Steg konnte man das Klackern von Holz und Metall hören. Der Gondoliere streckte die Hand aus und die Gestalt ließ sich elegant in das Boot helfen und nahm auf der Bank, die mit goldenem Samt, auf dem schwarze Muster zu erkennen waren, bezogen war, Patz. „Ist es wieder soweit, Signora?“, fragte der Gondoliere. „Ja, die Zeit ist reif. Er ist wieder da.“

Die Gondel legte wieder ab und schob sich langsam den Kanal hinauf. Schweigend, von niemandem beachtet, verließ sie, nachdem sie die Santa Maria della Salute und den Markusplatz passiert hatte, den Canale Grande und glitt auf die Lagune hinaus. Schwarz glitzerte das tiefe Wasser im Licht der Stadt.

Nachdem sie San Lazzaro hinter sich gelassen hatten, hob die Gestalt den Kopf und blickte hinauf zu den Sternen, die in der klaren Nacht funkelten. Direkt neben dem letzten Neumond vor dem Karneval.


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⏰ Letzte Aktualisierung: Apr 15, 2020 ⏰

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