Der kühle Morgenwind streifte mir übers Gesicht. Hinter den Bäumen ging gerade die Sonne auf und tauchte alles in ein leuchtendes Rot.
Ich fröstelte und zog meine Sweatshirt-Jacke enger um meine schmale Hüften. Die kalten Dachziegel unter mir ließen meine Fußsohlen langsam taub werden.
Ein vibrieren am Handgelenk erinnerte mich daran, dass in genau einer Stunde, Olivia meine Krankenschwester, mein Zimmer betreten würde um mich aufzuwecken.Mit einem Seufzer schwang ich mich auf und kletterte vom Vordach zurück in mein Zimmer. Die Fensterscheibe war beschlagen. Kein Wunder. Immerhin hatte ich mindestens 7 Stunden draußen gesessen und einfach nur den Himmel angestarrt.
Mit einem empörten vibrieren meldete Larry das meine Körpertemperatur wieder stieg und mein Blutzucker sank.
Für andere war er als einfacher Fitnesstracker getarnt. In Wirklichkeit war das schmale, schwarze Armband an meinem rechten Handgelenk mein Überlebensretter.
Tja, wenn man mit einer chronischen Herzkrankheit geboren wird muss man ja ständig überwacht werden.
Zumindest laut meiner Mutter und die nahm diese Sache ziemlich ernst, seit sie meinen Bruder an einem plötzlichen Herztod verloren hatte, als er 16 Jahre alt war. Ich konnte mich daran nicht mehr erinnern. Wie denn auch?! Ich war 4 Jahre alt und seit diese Krankheit bei mir diagnostiziert wurde, ist ein Überwachungs-Modus in ihr aktiviert worden, pumpte sie mich mit Medikamenten voll und blies mir damit das Gehirn weg.Es gab Tage an denen ich mich nicht erinnern konnte was ich vor 5 Stunden gemacht habe. Manchmal war das aber auch etwas schönes, immerhin war mein Leben nicht sehr besonders oder hatte Erinnerungspotenzial.
Raus gehen durfte ich nur unter Begleitung von ihr oder Olivia, wenn überhaupt und zur Schule war ich auch noch nie gegangen.
Meine Mutter fand es die beste Idee mich selbst zu unterrichten seit sie gekündigt hatte, nach dem Tod meines Bruders.Sie konnte seinen Tod nie gut verarbeiten und soweit ich wusste, hatten sie immer eine sehr gute Beziehung zueinander gehabt. Ich habe sie leider nie so erleben können wie er, da sie seitdem unter schweren Depressionen und Angststörungen litt. Manchmal dachte ich mir nur, dass sie die ganzen Medikamente vielleicht mehr bräuchte als ich, aber mich fragte ja keiner.
Wieder piepte Larry.
Dieses mal zwei mal und das grüne Licht seines Scanners, der den Sauerstoff in meinem Blut maß, flackerte immer schneller. Wenn ich beim dritten Piepen nicht drinnen sein würde und etwas gegessen hätte, würde sich dieses Licht in ein gelbes durchgehendes Flackern verändern und eine Nachricht an meine Mum verschicken, dass ich unterzucker bin und dringend etwas zu mir nehmen muss.Steif und kalt stapfte ich zu meinem Nachtschränkchen, dass sich in unmittelbarer Nähe, neben meinem Bett befand und öffnete in die oberste Schublade. Darin lagen verschiedene Riegel, Traubenzucker, und Durstlöscher mit Wassermelonen Geschmack.
Ich griff nach einem Haselnuss-Kokos Riegel und biss hinein. Das braun-gelbe Papier knüllte ich in eine kleine, schrumpelige Kugel zusammen und warf es mit Leichtigkeit in den überquellenden, weißen Papierkorb neben der Tür, am anderen Ende des Zimmers.
Zu faul mir nochmal die Zähne putzen zu gehen, zog ich meine Sweatshirt-Jacke aus und rollte mich in meine dicke Daunendecke ein. Hätte ich doch nur daran gedacht meinen Herzkatheter wieder am Computer anzuschließen...Keine Viertelstunde später konte ich unmöglich meine Augen geschlossen halten. Mein Zimmer war hell durchleuchtet und es fühlte sich so an, als hätte ich einen Krampf, wenn man das Vibrieren an meinem rechten Arm irgendwie einstufen müsste.
Auf einmal sah ich das verängstigte Gesicht meiner Mum, die mit wirren Haaren und fahrigen Bewegungen versuchte mich an den Computer neben meinem Kop anzuschließen."Ich bin wach Mum, alles ist okay. es ist nichts passiert."
Startete ich einen Versuch sie zu beruhigen, doch es war als wurde sie mich gar nicht wahrnehmen, oder zumindest nicht die Tatsache dass ich mit ihr redete.
"Bleib bei mir Schatz. Wir schaffen dass! Du kannst mich jetzt nicht auch noch alleine lassen."
Ihre Stimme brach weg und sie wischte sich hastig ein paar Tränen aus dem Gesicht.
Die sonst so routinierten Griffe bei Olivia, sahen bei ihr wie pure Verzweiflung aus. Ich konnte ganz genau erkennen wie überfordert sie mit der ganzen Situation war und ehe ich es mich versah, drückte sie mir einen Becher mit Wasser und 8 verschiedene Tabletten in die Hand."Hier nimm die, dann geht es dir gleich wieder besser."
Wissend dass sie mich nicht alleine lassen würde, bevor ich diese Gott verdammten Pillen in meinem Mund haben würde, nahm ich die Handvoll und legte meinen Kopf in den Nacken. Mit dem Becher Wasser spülte ich nach und bemerkte gleich die Wirkung der ersten Schlaftablette.
Diese würde, aus meinen Erfahrungen zufolge zwar nur ein bis zwei Stunden anhalten, aber ich wusste dass ich mich danach an nichts mehr von dieser schönen, ruhigen und entspannten Nacht erinnern würde. Das bedeutete in meinem Fall, dass ich den ganzen Tag nur noch im Bett liegen würde und nichts weiter machen dürfte, außer das gesamte Amazon Prime Sortiment zu durchsuchen nach Filmen oder Serien, die ich noch nicht gesehen hatte.
Kurze Zeit später traf Olivia ein. Sie hatte das Notfall-Kit unter ihren Arm geklemmt und an ihrer Stimme war zu erkennen dass sie ziemlich außer Atem war, nachdem sie wahrscheinlich die ganze Strecke von ihrem Haus bis hierhin gerannt war.
"Was machst du nur wieder für Sachen!"
Begrüßte sie mich kopfschüttelnd und widmete sich dann meiner Mutter. Mit einem kurzen Blick auf mein Handgelenk vergewisserte sie sich dass alles in Ordnung war und schaltete den Alarm aus. Danach lief sie zu meiner Mutter, die sie auf den Hocker am Fenster platziert hatte und redete beruhigend auf sie ein. Dann nahm sie, sie an die Hand und führte sie aus dem Zimmer. Ich atmete einmal tief ein und aus und drehte mich danach auf die andere Seite.
"Nee, Nee junge Dame, so geht dass aber nicht!"
Riss Olivia mich aus meiner Traumwelt und griff nach dem dünnen Kabel, dass aus meinem T-Shirt rausschaute.
"Wir wollen ja nicht das deine Mum in 10 Minuten wieder hier hoch kommt weil du mal wieder zu faul bist dich selbst anzuschließen. Wir haben das ganze doch schon so oft zusammen geübt"
Mit geübten Handgriffen öffnete sie die Schleuse und schloss mich darüber an den Computer an.
"Na gut, jetzt geh schlafen bevor der Tag schon wieder halb rum ist."
Schmunzelnd drückte sie mir mein Kissen in die Hand und verließ mein Zimmer. Zum dritten mal heute drehte ich mich auf die linke Seite und schloss die Augen, doch dieses mal für länger als nur 15 Minuten...
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Midsummer Season
General FictionWas wenn man Wahrheit nicht mehr von Illusion unterscheiden kann? » Alle gaben immer vor das ihr Leben so perfekt war und in Wirklichkeit war das einfach nur eine dumme Illusion, der wir uns gerne hingaben, weil wir die Wahrheit nicht wahrhaben woll...