33| venice.

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[venedig ist die hauptstadt der region venetien in norditalien.]

Schon eine Ewigkeit rannte ich durch die Dämmerung. Der Mond kroch immer weiter den Himmel empor. Die kalte Luft brannte in meiner Lunge und ließ jeden Atemzug schmerzen. Mein Ziel hatte ich seit einer halben Ewigkeit aus den Augen verloren.

Ein durchdringender Schuss durchbrach die Nacht, die der Dämmerung folgte. Unbewusst trugen mich meine Beine schneller durch die Straßen, in denen der Schuss widerhallte. Ein unsichtbares Seil, das mich loste, führte mich zu einem Platz, auf dem sich eine Gruppe von Menschen versammelt hatte.

Unter Einsatz meines Ellbogens drängte ich mich in die Mitte der Gruppe vor und erstarrte. Jayden lag dort auf dem Boden inmitten einer Blutlache und bewegte sich nicht.

»Jayden! Jayden, hey.« Ich kniete mich neben ihn und umfasste sorgsam seinen Kopf.

In seinem Bein klaffte eine Wunde und es strömte eine Menge an der dunkelroten Flüssigkeit heraus. Jayden schlug seine Augen bei meiner Berührung auf und starrte mich an.

»Hey, Brummbär.«, setzte ich an und versuchte mich an einem Lächeln, das sich jedoch so falsch anfühlte, das ich es unverzüglich sein ließ. »Nicht bewegen. Die Wunde an deinem Bein sieht schlimm aus.«

Ich schaute überfordert zurück zu der Wunde und spürte Panik in mir aufkeimen. Was sollte ich tun? Was konnte ich machen? Mein Kopf war leer. Ich ... abbinden, ich sollte das Bein abbinden. Rasch zog ich mir meinem Schal aus und band ihm das Bein ab.

»Kann hier bitte jemand einen Krankenwagen rufen?«, rief ich und umfasste mit zitternden Händen erneut das Gesicht von Jayden. Keiner der Umstehenden bewegte sich oder blinzelte.

»Bitte bleib bei mir!« Mit zitterendem Zeigefinger fuhr ich über seine warmen Lippen, ehe ich mich herunter beugte und einen kurzen Kuss auf seinen Mundwinkel hauchte. »Du kannst es dir jetzt wirklich nicht erlauben, einfach so zu sterben. Du musst, hörst du? Du musst bei mir bleiben.«

Bei dir kann ich, ich sein, wie bei keinem sonst. Bei dir bin ich frei von meinen Dämonen. Bei dir fühle ich mich angekommen. All die ungesagten Worte rasten in meinem Gedanken umher, erdrückten mich so sehr, dass mir das Atmen schwerfiel.

Ich spürte einen sanften Druck um meine Finger. Das grün seiner Augen verfloss mit meinem blau, als ich aufblickte. Die Zeit blieb stehen und ich schaute hilflos dabei zu, wie er seinen letzten Atemzug tat und seine Augen schloss. Wimmernd fuhr ich ihm durch die braunen Haare. »Bitte nicht.«, hauchte ich.

Machtlos. Ich war machtlos gegen den Lauf des Lebens. Ich war machtlos gegen den Tod, wenn er anklopfte, und ich war machtlos gegen meine Gefühle, die in meinem Inneren für Jayden brannten.

Die Gruppe, die die ganze Zeit um uns stand, löste sich langsam auf. Alle trugen eine schwarze Weste mit dicken, weißen Lettern auf der Rückseite. ›MI9‹ entzifferte ich durch meinen Tränenschleier. Ich hatte Jayden an das MI9, verloren! Die Erkenntnis traf mich unerwartet mitten im Herzen und ich schreckte zurück.

Hektisch atmend fuhr ich hoch. Aufgelöst schaute ich mich in dem hellbeleuchteten Zimmer um. Schleppend realisierte ich, das ich Jaydens vermeintlichen Tod geträumt hatte und er sich im Moment in Haft vom MI9 aufhielt.

Ich ließ mich zurück in die Kissen sinken. Meine Gedanken kreisten nicht nur in meinem Traum mit all den ungesagten Worten in meinem Kopf, sondern auch in der bitterkalten Realität.

Eine unangenehme Gänsehaut breitete sich auf meinen Armen aus. Der Gedanke an Jaydens und meine Situation ließ mich frösteln. Würde er mir überhaupt verzeihen? Würde er meinem Plan zustimmen? Würde ich endlich den Mund aufbekommen und ihm all die Sachen sagen, die schon viel zu lange vollständige Sätze in meinem Kopf waren?

Eine kurze Erinnerung an Lia und Logan nahm Beschlag von mir. Lia noch ein kleines Baby, das gerade zum ersten Mal gelacht hatte, weil Logan, der Spaßvogel, eine witzige Grimasse gezogen hatte. Es war klar, dass ich mich mit meinem Plan gegen meinen Job, das MI9, Logan und meine Familie stellte. Scheiße!

Der Gedanke, meine Familie wegen einem der gefährlichsten Männer den Rücken zu kehren, hinterließ einen widerlichen Geschmack in meinem Mund. Ich würde alles Verraten, woran ich die letzten Jahre geglaubt und gekämpft hatte. Daran gab es keine Zweifel.

Der Gedanke wiederum, Jayden dem MI9 zu überlassen, ließ etwas in mir sterben. Ein Organ, das lebenswichtig war, – mein Herz. Den Muskel, der mich am Leben ließ. Mich, Logan, Lia und Jayden. Tränen der Verzweiflung brannten in meinen Augen.

Ein leises Klopfen riss mich aus meinen hoffnungslosen Gedanken. Ich krallte mir meine Decke, trocknete mit dem weißen Stoff meine Tränen und öffnete schwungvoll die Tür meines Hotelzimmers.

»Mister Swan hat Ihnen das vorbei gebracht.«, informierte mich eine männliche Stimme.

Mein Blick wanderte von dem kleinen schwarzen Koffer und einem Tablett mit Servierglocke hoch zu dem junghaften Gesicht eines schwarzhaarigen Mannes. Die Außendienstkleidung vom MI9 saß maßgeschneidert an seinem schlanken Körper und umgab ihn gleichzeitig mit einer finsteren Aura, die allen klar machte, besser nicht mit ihm zu sprechen.

»Sie haben nicht auf sein Klopfen gehört, daher hatte er mich angewiesen, alle fünf Minuten zu klopfen. Ich soll Ihnen ausrichten, das sich in dem Koffer Kleidung für Sie befindet und unter der Servierglocke Ihr Abendessen.«

»Und Sie sind? Wer hat Sie ausgebildet? Erst vorstellen, dann Anweisungen ausführen.«, fragte ich und legte interessiert meinen Kopf schief.

Ich hatte keine Ahnung, wen ich hier vor mir hatte. Und das konnte ich nicht leiden. Seine Non-verbale Sprache hatte ich augenblicklich, als ich ihn bemerkt hatte, gelesen und analysiert.

»André, Madam. Ich bin hier, um Sie zu bewachen.«, klärte er mich auf und salutierte.

»Das MI9 ist echt am Ende, wenn es denkt, es kann mich durch Sie in Schach behalten.«, grummelte ich und rollte den Koffer in mein Zimmer. »Gute Nacht und einen angenehmen senkrechten Schlaf.«

Mit einem leisen Klicken schloss ich die Tür hinter mir und stellte das Tablett auf dem braunen Schreibtisch ab. In der Sekunde, in der ich die Glocke anhob, schloss ich sie wieder. Bäh! Marinierte Sardinien befanden sich unter Glocke und wenn der Tag bis jetzt nicht schon wie die reinste Katastrophe verlaufen wäre, dann wäre das jetzt die Spitze des Eisbergs!

Logan wusste ganz genau, dass ich Fisch hasste, gar verabscheute. Mir hatte es schon für den Rest meines Lebens gereicht, wegen des lächerlichen Streites am ersten Abend mit Jayden Fisch essen zu müssen. Logan hatte damals nämlich meine Akte geschrieben und als Lieblingsspeisen ›Fischgerichte‹ eingetragen.

Ohne lange darüber nachzudenken, schnappte ich mir das Telefon und wählte die Nummer der Rezeption, um mir etwas Leckeres zu bestellen.

Sie und ErWo Geschichten leben. Entdecke jetzt