Wütend pfefferte ich das Besteck in die Spülmaschine und knurrte wütend auf. Manchmal hasste ich mein Leben wirklich. Zwar wusste ich, dass die Messer, Gabeln und Löffel nichts für meine derzeitige Lage konnten, aber es tat dennoch gut. Irgendwie musste ich mich schließlich abreagieren. Und zudem störte es hier sowieso keinen, was ich tat.
Außer mir hielt sich nur Anna - die Köchin des Heimes - in der Küche auf. Diese war jedoch bereits damit beschäftigt, Karotten für das Mittagessen zu schälen und beachtete mich daher kaum. Ihre kurzen, braunen Haare steckten unter einer weißen Haube und die müden, grünen Augen hielt sie fest auf das Gemüse geheftet. Sie ignorierte mich wie jedes Mal, wenn ich hier war, geflissentlich, was ich ihr gleich tat. Und ich war froh über ihre Gleichgültigkeit. Erzwungene Gespräche waren das Letzte, was ich im Moment gebrauchen konnte. Und zudem war Smalltalk noch nie meine Stärke gewesen.
Während ich die Teller in den Geschirrspüler stellte, schweiften meine Gedanken wieder ab. Dass diese hirnamputierte Schnepfe auch immer ohne Strafe davonkommen musste! Ständig war ich der Sündenbock. Mit mir konnte man es ja machen. Schließlich passte ich in diese Rolle auch einfach viel zu gut. Die arme Marie hingegen war der Engel und das Vorzeigekind des Hauses. Beim Tag der offenen Tür war sie diejenige, die die Reden vor den möglichen Adoptiveltern halten durfte. Ich hingegen war die psychisch schwer geschädigte Tochter eines Alkoholikers und einer Mutter, die im Rollstuhl saß und sich verhielt, als sei sie Vierzehn und nicht Anfang Vierzig. Dazu kamen meine ganzen Vorstrafen, die Beinahe-Magersucht - vor der man mich ja gerade noch gerettet hatte, Halleluja! - mein etwas auffälliges Erscheinungsbild und das aufmüpfige Verhalten. Was wollte man mehr? Ich war eben das bilderbuch gestörte Mädchen, das von Heim zu Heim weitergereicht wurde, nicht unter Kontrolle gebracht werden konnte - ein hoffnungsloser Fall, wie meine Lehrer mir schon oft gepredigt hatten - und leider auf die schiefe Bahn geraten war. Wirklich traurig, aber naja. Sie hatten ihr Bestes gegeben. Mehr musste man über mich nicht wissen. Aus. Ende. Fertig. Punkt.
Schnaubend strich ich meine Haare zurück und spielte abwesend an meinem Piercing herum. Um ehrlich zu sein, war ich froh, diesen Ruf wegzuhaben. Es hielt die Leute auf Distanz. Und das war schließlich mein Ziel. So wenig Nähe wie nur möglich zulassen. Das machte einen weniger angreifbar und verletzlich. So gesehen, durfte ich mich eigentlich auch nicht beschweren. Es war meine eigene Schuld, dass ich so behandelt wurde. Aber dennoch nagte es an mir, dass Marie einfach so ungestraft davonkam. Sie und ihre Schatten hatten eine Abreibung verdient. Eigentlich hätte meine Faust in ihrer dämlichen Hackfresse landen sollen und nicht nur etwas Joghurt auf einem Top. Ein blaues Auge hätte Marie sicherlich gut gestanden und die Arbeit im Bad am Morgen zudem ziemlich erleichtert. Einen Permanentlidschatten, der die Farbe änderte, konnte schließlich nicht jeder sein Eigentum nennen.
Bei diesem Gedanken kräuselten sich meine Lippen und der Anflug eines Lächelns zierte für einen winzigen Moment mein Gesicht. Mit den Händen stützte ich mich währenddessen auf der Arbeitsplatte ab und zog tief Luft in meine Lungen ein. Der Geruch nach ranzigem Fett stieg mir dabei in die Nase und ich verzog angewidert das Gesicht.
,,Du kannst jetzt dann gehen", riss mich eine gelangweilte, vom vielen Rauchen kratzige Stimme aus meinen Gedanken, die zu Anna gehörte. Ich drehte den Kopf in ihre Richtung und begegnete einem glanzlosen Augenpaar. Ob ich wohl auch so aussah? Abgestumpft und dem Leben überdrüssig?
Ich zuckte mit den Schultern als Antwort auf Annas Frage und legte das Geschirrhandtuch weg. Innerlich verneinte ich jedoch meine Frage. Ich war nicht wie sie. Ich hatte noch Freude am Leben. Und sei es nur in den Momenten, in denen ich andere reizen konnte oder einfach das tat, was andere verurteilten. Ich war die geborene Einzelkämpferin durch und durch. Das war ich schon immer gewesen. Auch, wenn ich nicht verstand, für was das alles gut sein sollte. In ein paar Jahrzehnten würde sich sowieso keine Sau mehr an uns erinnern. Nichts war für die Ewigkeit gemacht. Auch nicht wir Menschen.

DU LIEST GERADE
Splitterseelen
Romance》Das Leben ist ein großes Mysterium. Von vorne bis hinten. Manchmal dein bester Freund und dann doch wieder dein ärgster Feind. Einmal fängt es dich mit seinen starken Armen auf und dann lässt es dich plötzlich eiskalt fallen, als seist du eine heiß...