Wie jedes Jahr sitze ich hier, auf dieser alten, von den Jahren befallenen, versteckten Holzbank, die neben dem kleinen Weg zum Teich im Wald liegt. Den Teich, mit dem ich so viele Erinnerungen aus meiner Jugend verbinde, an dem ich Freunde getroffen und Romanzen begonnen habe. Doch am allerwichtigsten: an dem meine Geschichte, unsere Geschichte, begonnen hat.Ich traf sie an einem wolkengrauen Tag im Herbst vor fast 50 Jahren. Sie verabschiedete sich gerade von ihren Freundinnen, als ich an ihr vorbeilief, um an meinen geheimen Platz zu kommen. Das Mädchen entdeckte mich und sah mir mit ihren karamellfarbenen Augen direkt in die meinen. Sie hielten mich gefangen, weshalb ich stehenblieb, um sie genauer zu betrachten. Ihre glatten, schwarzen Haare umringten ihr ovales Gesicht perfekt, das einen leichten Rotschimmer durch die aufziehende Kälte auf den Wangen entwickelte. Wir schauten uns beide gegenseitig eine Zeitlang an, bis ich das Schweigen zwischen uns brach. „Schön hier, nicht wahr?", sagte ich - das war das Erste, das mir in den Sinn kam, ohne zu merken, was ich eigentlich von mir gab, da ich so sehr von ihrem Erscheinen gefangen war. Erst als die Wörter meinen Mund verlassen hatten, fiel mir auf, was ich da überhaupt gesagt hatte. „Ich bin übrigens Mattis", schob ich deshalb schnell hinterher. Das Mädchen fing an zu lächeln und erwiderte: „Minna, mein Name ist Minna." Ihre samtig weiche Stimme brachte meine Mundwinkel dazu, sich zu heben, während wir uns immer noch nicht von den Augen des anderen losreißen konnten. Daher war es auch keine Überraschung, dass ich sie fragte, ob sie mit zu meiner versteckten Bank kommen möchte, was sie wie selbstverständlich bejahte. Und nun saßen wir dort, umgeben von dem farbenfrohen Blättermeer, den kaum hörbaren Geräuschen der Tiere und dem immer kälter werdenden Wind, doch wir genossen es und fingen an, uns kennenzulernen. Wir blendeten alles aus; erst als die Sonne langsam anfing, am Horizont zu verschwinden und der Mond ihren Platz einnahm, erwachten wir aus unserem selbst kreierten Universum und realisierten, dass es an der Zeit war, sich zu verabschieden. Jedoch musste ich sie unbedingt wiedersehen, daher fragte ich fast schüchtern: „Treffen wir uns morgen wieder, um dieselbe Zeit am Teich?" Nervös knetete ich meine Hände und wartete auf ihre Antwort, doch stattdessen bekam ich ein zurückhaltendes Nicken, bei dem ihr eine Strähne ihres pechschwarzen Haares in das hübsche Gesicht fiel. Vorsichtig nahm ich die weiche Strähne zwischen meine Finger und strich sie ihr hinter ihr linkes Ohr, wobei ich ihre warme Haut berührte und rot wurde. Sofort konnte ich erkennen, dass sie eine Gänsehaut und genau wie ich einen roten Glanz auf ihren Backen bekam, der mir ihre Schüchternheit bestätigte. Daher bewegte ich meine Hand schnellstmöglich wieder zu mir, während Minna mich ein letztes Mal für heute mit ihren karamellfarbenen Augen ansah, sich dann umdrehte und den versteckten kleinen Weg zum Teich zurücklief, ohne dass ich sie aus den Augen ließ. Erst als ich sie nicht mehr sah, verstand ich die Folgen, die dieses Mädchen noch für mich haben würde, doch ich würde sie nicht aufhalten.
Als ich neben mich sehe, bestaune ich nun nicht mehr das junge Mädchen von früher mit den pechschwarzen Haaren, jetzt sehe ich meine Frau mit den mittlerweile grauen Haaren. Doch das ist nicht das Einzige, das sich in den letzten Jahren verändert hat. Minna und ich trafen uns nach dieser Begegnung immer öfter, irgendwann wurden aus den Bekannten zwei Freunde und aus den Freunden wurden Liebende. Dieses Band überstand nicht nur die Krisen und Probleme eines gemeinsamen Lebens, es erschuf auch drei wundervolle Kinder und wurde von Tag zu Tag, von Monat zu Monat und von Jahr zu Jahr immer stärker. Wenn ich jetzt neben mich sehe, weiß ich, dass ich das größte Glück auf Erden vor über 50 Jahren am Teich neben meiner versteckten Holzbank gefunden habe. Denn mein Glück heißt Minna und lächelt mich gerade mit demselben wunderschönen Lächeln an, das ich seit unserem Kennenlernen auf ihrem Gesicht finde. Und genau wie damals sitzen wir auf unserer Bank, nur diesmal umringt uns ein Feld aus Tulpen, die von der Maisonne wunderbar beleuchtet werden und uns beide noch mehr strahlen lassen.
ENDE
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Ein Sommertag im Mai
Short StoryEs sollte ein Tag wie jeder andere werden, an dem der junge Mann zu seinem versteckten Lieblingsplatz ging. Doch das war er nicht. Denn an diesem Tag traf er auf eine ganz besondere Person. Eine Person, die sein Leben für immer verändern sollte.