03 - Magnet für Idioten

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Die beiden Englischstunden sind wie im Fluge vergangen. Wir haben nichts anderes gemacht, als einen Text zu verfassen. Da haben selbst die letzten grauen Gehirnzellen ihr Bestes geben müssen. Kreativität ist gefragt worden. Eine fiktive Geschichte zu einem Jungen, der mit seinem Leben nicht mehr weiterweiß. Es hat viele von uns gegeben, die die Aufgabe seriös angegangen sind. Victor und Eric haben sich etwas Absurdes ausgedacht. Wenn man nicht mehr weiterwisse, helfen nur noch Alkohol und Mallorca. Oder Bulgarien. Der Ballermann würde regeln. Als Victor mit seinem verdammt schlechten Englisch das Geschriebene vorgetragen hat, haben die meisten von uns angefangen zu lachen. Eine Benotung ist ausgeblieben, dennoch hat er sich einen Tadel einfangen dürfen. Wie zu erwarten kümmert ihn das nicht. Seiner Ansicht nach hätte er die Anforderungen gut erfüllt. Ich habe stillschweigend die Augen verdreht und zum dritten Mal meine Sätze durchgelesen. Dann hat unser neuer Mitschüler vorlesen dürfen. Aufgrund seines Akzents hat man etliche Wörter klar und deutlich vernehmen können. Er hat es ruhig vorgetragen. Langsam, aber nicht zum Einschlafen animierend. Man kann sagen: Nahezu jeder hat förmlich an seinen Lippen gehangen. Mikołaj hat eine angenehme tiefe Stimme. Wie dem auch sei. Seine Person hätte sich Hilfe gesucht. Von fremden Menschen sei er abgewiesen worden. Selbst von seinen besten Freunden. Den Anker hat er in der eigenen Familie gefunden, wenngleich das Verhältnis sehr schlecht ist. Sie haben ihn dieses Mal nicht im Stich gelassen. Selbst nach der Stunde habe ich weiterhin über die Sätze nachgedacht. Habe mir erdenkliche Szenen ausgemalt. Assoziationen erstellt. Es hat viel zu real geklungen. Hat er vielleicht doch persönliche Elemente mit einfließen lassen? Ich habe nicht gefragt. Warum auch? Ich hätte erstens nicht den Mut aufbringen können und zweitens ist Mikołaj bestimmt nicht der Typ, der über so etwas länger als notwendig spricht. Also habe ich mich wortlos nach draußen begeben. Elise hat sich in ein Gespräch mit Zayneb und Charlotte geklinkt. Es geht um das Mittagessen. Wo sie denn nun hinfahren werden. Man könnte auch eine Pizza-to-go essen. Zayneb hat im Anschluss der Stunde eine Doppelstunde Physik. Elise mit mir zusammen Biologie. Wie ich zufällig erfahren habe, Mikołaj ebenfalls. Super. Einen ganzen Tag mit dem Kerl, dessen Gestalt mich nicht mehr in Frieden lässt. Vor allem nicht seine eigenartigen Augen.

„Die Taschen könnt ihr einfach in den Kofferraum werfen. Ilkay hat's endlich geschafft, seinen Elektroschrott 'rauszunehmen." Die gebürtige Türkin hält für uns die Tür offen, als wir die Treppen heruntergegangen sind. Siebtklässler haben sich auf den Stufen niedergelassen. Haben die Nasen in die Handys gesteckt. Rufen sich etwas zu oder kommentieren ihre Spiele. „Leute, wir fahren zu Al. Der macht immer gute Döner." Sie schließt zu Charlotte auf. „Ohne Scheiß. Ich hab' so richtig Hunger."

„Ja, was isst du auch ständig alles in der ersten Pause auf? Du könntest es dir beim nächsten Mal aufteilen." Elise gesellt sich zu mir. Ein kleines Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen. „Hört sich gut an. Döner geht immer." Sie sieht mich an. „Ist alles okay? Du machst einen abwesenden Eindruck." Die ersten Radfahrer sausen in kleinen Gruppen an uns vorbei. Ein Junge hat sich auf den Gepäckständer eines Mädchens gesetzt. Dieser muss die langen Beine etwas hochheben, damit die Schuhe nicht über den Boden schlittern.

„Ich glaub's nicht. Warum haben immer so viele Schluss? Ich will auch. Scheiß' doch auf Physik. Das Thema ist gerade eh der größte Scheiß." Ihre langen schwarzen Haare hat sie zu einem kunstvollen Zopf geflochten, bei dem Charlotte ihr behilflich gewesen ist. „Voll die Ärsche, das sag' ich dir. Sollen sie mal in die Zwölfte gehen." Sie blickt einem korpulenten Jungen nach, der zur zweiten Haltestelle watschelt.

„Schon okay", antworte ich und sehe verstohlen zum Audi, der in der Mittagssonne glänzt. Ein wahrlicher Blickfänger. Etliche Schüler, vor allem aus den unteren Stufen, drehen sich ständig zum ruhenden Biest um. Es gibt sogar ein paar, die Fotos schießen. Wäre da nicht dieser weiße Fleck auf der hinteren Scheibe ... „Ich denke nur darüber nach, was wir nach der Schule machen könnten. Immerhin ist mein Vater nicht mehr da. Du könntest theoretisch zu mir." Elise ist tatsächlich die Einzige, die von meinem Vater akzeptiert wird. Sie sei bei uns stets willkommen. Sie ist die erste ihm fremde Person, in die er tiefstes Vertrauen hat.

Teach me love, good girlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt