06 - Erste Zweifel

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„Ich habe vor, mich mit Elise zu treffen. Wollten höchstwahrscheinlich zu mir", antworte ich und habe die Zeit völlig vergessen. Ich müsste zurück. Die Aufgaben warten. „Mal sehen, was dann kommen wird. Vielleicht baden fahren. Eis essen. Entscheiden wir spontan." Ein Schüler taucht auf dem Parkplatz auf. Einer, der zu einem schwarz-roten Motorrad geht. „Und du? Wie sieht dein Fahrplan aus?"

Ich fühle mich keineswegs beklemmt. Vielmehr entspannt. Nicht zurückhaltend, wie ich anfangs befürchtet habe. Ich habe mir nur vertrauen müssen. Es käme von allein. Diese Gesprächsführung, die ich über all die Jahre vermieden habe.

„Baden hört sich echt gut an. Könnte ich auch 'mal wieder machen. Ich hocke ansonsten gefühlt den ganzen Tag im Fitnessstudio oder in der Bude. Um mein Kampftraining aufzunehmen. Kann ja schlecht nach Łagów fahren, um es dort zu machen. Würde auf Dauer aufs Geld gehen." Er scheint zu überlegen. „Mein Vater übt in der Regel jeden Tag mit mir. Mindestens zwei Stunden. Da ist man ständig fertig mit der Welt."

Ich werde erneut hellhörig.

„Also wenn du magst, kann ich dir in den nächsten Tagen gerne ein paar nette Ecken zeigen." Die Aufgaben sind mir egal geworden. Soll ich ruhig eine sehr schlechte Bewertung einsacken. Davon wird die Welt nicht untergehen. „Dein Vater ist also dein Trainer. Ist er selbst aktiver Kampfsportler?" Um keinerlei Verdacht zu erregen, ergänze ich mild: „Ich wechsele ständig zwischen Dojo und Zuhause. Meiner übt auch mit mir."

„Seit er siebzehn ist. Eine sehr anstrengende Mischung aus Kickboxen und Muay Thai." Er fährt mit der rechten Hand durch die dunkelblonden Haare. „Ich hab' ihn mal gefragt, woher er das alles kann. Antwort ist gewesen, dass er's sich alles selbst beigebracht hat. Ein paar Techniken von jemanden, der irgendwo in der Ukraine lebt."

„Und ... wie alt ist dein Vater? Damit ich eine ungefähre Vorstellung habe", füge ich zügig hinzu, als ich Mikołajs fragenden Blick wahrgenommen habe.

„Ach, jetzt habe ich es auch verstanden." Er lächelt leicht. „Dreiundvierzig. Hat also gute sechsundzwanzig Jahre hinter sich. Da kann man einiges lernen." Stolz umhüllt den Ton der Stimme. „Ich habe mehr oder weniger auf seinen Bitten hin damit angefangen. Sollte mich immer verteidigen können, falls es hart auf hart kommt. Ich bin ihm echt dankbar – bisher habe ich mich sechsmal ernsthaft verteidigen müssen. Hat auf meiner Schule für etliche Probleme gesorgt. Die wollten mich von der Schule werfen, weil ich angeblich so aggressiv sei." Der Pole beobachtet einige Spatzen, die auf dem Dach von Zaynebs Auto herum hüpfen. „Na ja, außerdem muss 'wer den Bruder beschützen. Łukasz ist das komplette Gegenteil von mir." Er holt von Neuem das Handy hervor. Schaltet es an. Dieses Mal habe ich einen genaueren Blick auf das Display werfen dürfen. Sein Vater ist nicht viel größer als er selbst. Vielleicht um die eins siebzig. „Sport ist bei ihm kein wichtiges Thema. Lieber zocken, in der Bude hocken und extrem viel für die Schule machen. Ich hab' manchmal das Gefühl, dass er keine ... realen Freunde hat." Er hält es mir hin. „Allein schon, wenn man uns sieht, kann man eindeutige Unterschiede erkennen."

Stimmt. Łukasz, der linke, ist deutlich schmaler und schlanker geschnitten als sein Zwillingsbruder. Die Frisuren gleichen sich. Nun, das ist auch fast das Einzige, was bei denen gleich ist. Łukasz' Gesicht ist viel kantiger. Die Augen ebenfalls weißlich. Er hat Mikołajs Lächeln. Würde er mehr Sport treiben, sich auch einen Expander stechen lassen, hätte man keinerlei Differenzen erkannt.

„Ihr seid eineiige Zwillinge, und trotzdem unterscheidet ihr euch sehr", sage ich ein wenig verblüfft und sehe vom Gerät auf. „Interessant." Eine Frage bahnt sich an. „Wie ist eigentlich das Verhältnis zwischen dir und Łukasz? Man sagt immer, eineiige Zwillinge hätten eine ganz besondere Verbindung zueinander. Man merkt also quasi, wenn es dem einen nicht gut geht."

Teach me love, good girlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt