Die Augen weit aufgerissen, durchdringt mich ihr Blick. Ein Blick der zwischen Verzweiflung und Hoffnung schwankt. Hoffnung auf die Erlösung von Schmerz und Leid, aber auch die Verzweiflung, im Angesicht des Unvermeidlichen, sich dem Endgültigen zu stellen.
Ich spüre ihre Angst und sehe in ihren tiefen braunen Augen wie das Leben aus ihrem Körper weicht. Pupillen die sich weit öffnen, als wollten sie im letzten Augenblick noch die gesamte Schönheit der Welt aufsaugen. Flehende Blicke die mir zu verstehen geben, "hilf mir" - "lass mich nicht alleine". Nein, ich lasse dich nicht alleine, alte Frau. Ich halte deine Hand und hoffe, dass du die Kraft hast, deinen Weg zu gehen. "Hab keine Angst, ich bin bei dir". Meine einzige Waffe, beruhigende, sanfte Worte. Ich frage sie, wann sie Mutter geworden ist, ob sie Enkel hat, ob sie glücklich war. Nein, glücklich nicht. Zwei Männer habe sie verloren, einen im Krieg, den zweiten habe man auf der Strasse totgeschlagen, Kinder hatte sie nie.
Das Leben war nicht gut zu ihr, doch sie hat durchgehalten, bis zum Schluss und fürchtet sich nun doch vor der Erlösung. Ihr Köper zittert. Ihr Händedruck wird fester. Ich streiche ihr durch die Haare, hauche ihr meinen Atem über den Kopf. "Spürst du den Wind?", sie schließt die Augen und sagt, "ja ich spüre ihn". Ich flüstere ihr ins Ohr, "wir fahren übers Wasser, du liegst auf einem Boot, die Sonne scheint dir ins Gesicht. Es ist Frühling und der Duft der Blumen liegt in der Luft. Kinder spielen am Strand und Menschen warten auf der anderen Seite des Sees auf dich". "Ja ich sehe sie, sie winken mir zu", sagt sie leise. Ich lege meine Wange auf ihre, ihr Hand verkrampft sich und zerdrückt mir die Finger. Es schmerzt, aber der Schmerz verliert sich in der Bedeutungslosigkeit. Ich spüre ihren Atem auf meinem Hals, flüstere ihr so sanft wie es meine bebende und tränenerstickte Stimme zulässt, ins Ohr, "ich liebe dich von ganzem Herzen, ich bin bei dir, du bist nicht alleine".
Ich kenne diese Frau nicht.
Ich zähle ihren Atem. Einmal, zweimal... ich warte, ich höre auf zu zählen, sie atmet nicht mehr. Mein Kopf fängt an zu kribbeln, meine Umgebung verschwimmt. Ich traue mich nicht, mich zu bewegen. Ich habe das Gefühl ich schwebe, als ginge ihre Seele in mich über, ich kann mich nicht lösen, möchte sie nicht alleine lassen.
Sie hält immer noch meine Hand und hat sie nie wieder losgelassen.
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Eine wahre Geschichte, die das Leben schrieb.
Short StoryEine alte Frau liegt im Sterben und ich habe versucht diesen Moment emotional einzufangen. Eine meiner ersten Kurzgeschichten überhaupt.