Kapitel eins: Windhaven

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TEIL I

10 Jahre später, Windhaven

MEROWEN

Ein lautes Geräusch riss mich aus meinem Traum. Blinzelnd versuchte ich, die letzte Benommenheit des Schlafs abzuschütteln. "Beeil dich!", rief mir Elia zu. Sie war bereits vollständig angezogen und überprüfte den Sitz ihres Waffengürtels. Nun erkannte ich auch das Geräusch, welches mich geweckt hatte: die Alarmglocken. Seit ich denken konnte, wurde die Glocke nur geläutet, wenn.. 

"Krieg.", flüsterte ich entsetzt. 

"Du hast es erfasst Mero. Und ich werde ganz sicher nicht die Letzte auf dem Platz sein, damit Lord Devlon wieder eine Ausrede hat, mich im Lager zu lassen.", bemerkte Elia genervt. 

"Ich bin draußen und halte dir einen Platz frei. Bis gleich!", rief sie mir zu, dann war sie weg. 

Elia war eine der wenigen Frauen, die die Regeln im Lager hassten. Die Regeln der Illyrianer, die es Frauen grundsätzlich verboten, zu kämpfen. Die Regeln, die dafür sorgten, dass wir unsere Flügel nur bis zur ersten Blutung behalten durften. In dieser Hinsicht hatten Elia und ich bisher Glück gehabt. Einmal im Monat flogen wir zu einer Heilerin in den Bergen, die uns Kräuter gab, die den natürlichen Zyklus um Jahre hinauszögern konnten. Sie lebte alleine und kannte das Lager nicht, es bestand also keine Gefahr, dass Devlon und seine Männer etwas davon erfuhren. Doch trotz der Kräuter und dem heftigen Training wussten wir beide, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis unsere Flügel gestutzt würden. Vielleicht kam da Krieg gerade recht.


Vor dem Zelt hörte ich Lord Devlon bereits Befehle brüllen. Verdammt, ich war zu spät. Leise fluchend zog ich eine enge Hose und ein Oberteil aus Leder an, band meine Haare zu einem engen Knoten im Nacken zusammen und warf mir meinen Waffengürtel über. Dann griff ich nach dem illyrianischen Kurzschwert, das neben meinem Bett lehnte, und rannte nach draußen. 

Suchend ließ ich meinen Blick über die Menge schweifen. Alle Illyrianer standen bereits in ordentlichen Reihen nebeneinander; Lord Devlon war allerdings noch abgelenkt. Er sprach mit einem Krieger am Eingang des Lagers. Das war meine Chance! Leise schlich ich zu Elia, die in der zweiten Reihe stand und mit geradem Rücken alle abschätzenden Blicke der umstehenden Männer ignorierte. 'Zweite Reihe, näher ging es wohl nicht!', dachte ich entnervt, während ich versuchte, unbemerkt zu meinem Platz zu gelangen. Gerade, als ich den freien Platz neben Elia erreichte, drehte sich Lord Devlon um. 


Er bedachte die versammelten Illyrianer mit einem ernsten Blick; Elia und mich sah er besonders lange an. Ich bemerkte, wie sich seine Augen leicht verengten. Obwohl er von meinem verspäteten Erscheinen nichts wissen konnte, schien er wütend zu sein. Gut, das konnte auch daran liegen, dass wir Frauen waren. Die einzigen Frauen, die es gewagt hatten, zu einem Treffen zu erscheinen, bei dem die Krieger auf den bevorstehenden Kampf eingeschworen wurden. Denn Kämpfen war ja nach Meinung der Illyrianer Männnersache. 

Bevor Lord Devlon etwas sagen konnte, ergriff der Krieger neben ihm das Wort. 

"Hallo alle zusammen. Mein Name ist Cassian und ein Teil von euch wird im bevorstehenden Krieg unter meinem Befehl kämpfen. Obwohl ihr vermutlich alle geeignet seit, bitte ich zunächst um eine.." 

"Das reicht, ihr könnt gehen.", unterbrach ihn Lord Devlon. Verärgert schaute Cassian ihn an. 

Doch Lord Devlon ignorierte ihn und winkte stattdessen in meine Richtung. "Meint Ihr mich?", stammelte ich verdutzt. 

"Siehst du sonst noch eine Frau auf diesem Platz, die ich meinen könnte? Natürlich meine ich dich, und nimm deine Freundin gleich mit." 

"Nein, wir kämpfen.", das kam von Elia. 

Sie blickte den Lord mit leicht erhobenen Kinn an. Ich war froh, dass sie widersprach, denn meine Stimme hatte versagt, seit uns Lord Devlon seine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Dieser wurde langsam so richtig wütend. Er hatte anscheinend nicht erwartet, dass wir uns seinem Befehl wiedersetzen würden. Noch davor in Gegenwart eines der größten Illyrianer, die Windhaven je hervorgebracht hatte. 

Oh ja, ich wusste, wer Cassian war. Jeder wusste das. Er war eine Legende, vor allem unter uns Frauen, da er uns ermöglichte, am Training der Männer teilzunehmen und uns mit mehr Respekt behandelte, als jeder einzelne der anderen Illyrianer. 

"Ihr verlasst sofort diese Versammlung! Im Krieg ist kein Platz für Frauen!", tönte Devlons Stimme durch das Lager. "Erst Recht nicht für Frauen ohne Flügel.", fügte er spöttisch hinzu und sah mich dabei an. 

Meine Wangen brannten. Niemand drehte sich um, doch ich wusste, dass die Männer vor mir mich gerade innerlich verspotteten. 

"Das reicht, Lord Devlon. Das Lager mag Eures sein, derzeit habe allerdings ich die Befehlsgewalt. Die Frauen bleiben.", unterbrach ihn Cassian. 

"Warum habt Ihr keine Flügel? Seid Ihr ein Mensch?", richtete er das Wort nun direkt an mich. 

Ich schluckte. Das war mir definitiv zu viel Aufmerksamkeit. "Ich bin Illyrianerin, besitze meine Flügel jedoch nur nachts. Ich wurde so geboren, es war schon immer so.", brachte ich mit leiser Stimme heraus. 

"Das ist ein Problem. Wir brechen noch heute Nachmittag auf und müssen so schnell es geht, zur Front. Solange Ihr nicht fliegen könnt, verlieren wir nur Zeit. Ihr müsst hier bleiben.", sagte Cassian. "Es tut mir Leid.", fügte er noch hinzu, dann richtete er das Wort an alle. 

"Die anderen packen alles zusammen, was sie tragen können, wir treffen uns in drei Stunden wieder hier." Damit drehte er sich um und verschwand in einem der Zelte. 


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"Jetzt beruhige dich doch Merowen. Es hätte schlimmer kommen können! Immerhin hat Cassian für uns gesprochen. Er hat Lord Devlon sogar den Mund verboten, diesen Gesichtsausdruck werde ich nie vergessen.", Elia lachte leise auf. Dann nahm sie meine Hand. "Mero das wird schon. Wir sehen uns wieder." 

"Aber wir wollten doch gemeinsam kämpfen. Die ersten Illyrianerinnen auf dem Schlachtfeld! Und jetzt sind meine komischen Flügel daran Schuld, dass ich hierbleiben muss.", ich konnte nur mühsam ein Schluchzen unterdrücken. 

Das war alles so ungerecht. Ich hätte mit Elia fliegen können, das hatten wir schon oft gemacht. Und als Kriegerin war ich gut, ob mit oder ohne Flügel. Das wusste auch Lord Devlon. Wahrscheinlich hatte er genau deswegen keinen Einwand gegen Cassians Befehl erhoben. Ich spürte immer noch seinen eiskalten Blick auf mir ruhen. 'Bastard', hatte er lautlos mit den Lippen geformt, bevor der Lord hinter Cassian in das Zelt getreten war. Unter lautem Gelächter der versammelten Männer war ich in mein Zelt gegangen, die Tränen in den Augen nur mühsam zurückhaltend. 


Eine Demütigung wie diese sollte mich nach all den Jahren eigentlich nicht mehr treffen, doch sie tat es. Ich fühlte mich wieder an jenen Tag zurückversetzt, an dem ich hier ankam: halb erfroren lag ich im Schnee, nachdem mich Devlon dort zurückgelassen hatte. Ein Blick auf mich hatte gereicht. Ich war ein Mädchen und somit für ihn wertlos. Hätte Elia mich nicht in das Lager geschleppt, wäre ich wohl damals gestorben. 

Ich blinzelte und schüttelte kurz den Kopf. Dann wischte ich mir einmal über das Gesicht und stand auf. Ich wollte meine letzten Stunden mit Elia nicht in Selbstmitleid badend verbringen, das hatte sie nicht verdient. 

"Kann ich dir helfen?", fragte ich. 

Elia stand bereits umgezogen vor ihrem Schrank, die hellblonden Haare hatte sie zu einem strengen Zopf geflochten. Auf ihrem Bett lagen stapelweise Dolche, Bögen, Schilder und Schwerter, die sie mit gerunzelter Stirn musterte. 

"Ich bin nicht sicher, welche Waffen ich mitnehmen soll.", antwortete sie. 

"Na da kann ich dir sicher helfen", meinte ich und versuchte, ein Lächeln aufzusetzen. 

Dann griff ich nach einem Breitschwert. "Lass uns doch mit dem Offensichtlichen anfangen: du brauchst ein gutes Schwert."




Tales of Wings and Fire (ACOTAR fanfiction)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt