Anfang von Akt 1

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»Er wird angeklagt wegen Entführung der neunzehnjährigen Kaia Bersa und dem möglichen Kindesmord ihres Säuglings.« Ernst tippt Nachrichtensprecher Jonathan Andelman seinen Blätterstapel auf dem Tisch ab. »Er ist mit Abstand der meist gehasste Mann Amerikas.«

Das ist eine berechtigte Behauptung. Der Fall der Kaia Bersa ist nun seit anderthalb Jahren der Grund heißer Diskussionen und Pseudoermittlungen. Alle Hinweise deuten darauf hin, dass der Mann, der gleich an der Gerichtsverhandlung teilnehmen wird, dafür verantwortlich sei.
Zumal er beim vorletzten Interview stolz bekannt gegeben hat, einen Kult zu führen. Einige hielten das zu dem Zeitpunkt für sehr dreist, so etwas einfach preiszugeben. Er empfand es lediglich als Einladung an die Zuschauer. 

Die Blicke der Nachmittagssäufer, einige schwanken schon benommen auf ihren Höckern rum, richten sich auf den kleinen Fernseher, der über ihnen an der Decke flackert. Die Stimmung in der Taverne ist angespannt. Zu den heißblütigen Basketballfans haben sich heute nämlich auch Passanten dazugesellt, die nach der Arbeit das nächstbeste Lokal aufgesucht haben, in dem man die Nachrichten verfolgen kann.

Es folgt eine kurze Einblende aus dem Gerichtssaal, etikettiert mit »Breaking News«. Die vorderen Sitzbänke sind mit etlichen Frauen besetzt, die darauf bestehen, dass der Angeklagte ja nur missverstanden sei und dass die vielen Kindheitstraumata Schuld an das ganze Unrat sein müssen, das er verursacht haben soll — wenn überhaupt. »Wäre dieses kranke Schwein nicht annäherend so attraktiv wie die Tabloids ihn darstellen, hätte er bestimmt nicht so viele Groupies«, hickst ein kleiner dicklicher Mann. Sein Freund, der auf dem Hocker neben ihm rutscht, nickt nervös. Er erinnert sich an diverse andere Monster, die in Kriminaldokumentationen immer wie normale und gar anziehende Persönlichkeiten wirken. In Wahrheit aber barbarische Sadisten sind, die vorallem ihre naiven Fans schlachten und entweihen würden. Ein Schauer läuft ihm über den Rücken. »Ich hoffe, dieser Dreckssack wird abgeführt«, winkt er ab und gönnt sich noch einen kräftigen Schluck aus seinem Krug.

Familie Dominguez besteht aus acht Köpfen. Drei Kleinen, Drei Mittleren und zwei Erwachsenen. Papa wäscht in der Küche noch den letzten Teller ab, bevor er sich den anderen anschließt. Alle Blicke sind auf den Fernseher gebannt, als würden sie auf irgendeinem Jumpscare in einem Horrorfilm warten. Nur Silvia steht im Türrahmen mit ihren nassen Haaren im Handtuch gehüllt. »Da kommt er!« Der halbwüchsige Luis zeigt mit dem Finger auf den Bildschirm und setzt seine Cornflakesschüssel auf die Sofalehne ab. Papa beugt sich vor. Das erste, was ihm auffällt, ist die Körpergröße vom Angeklagten. Er ist beinahe drei Köpfe größer als der Anwalt vor ihm und der Polizist hinter ihm, der ihn in den Saal schubst. Dann das Gesicht. Silvia umklammert das große Kreuz, das an ihrem Hals hängt, als hätte sie Angst, dass es gleich von alleine abreißt und davonrennt.

Die Frauen im Zeugenstand tuscheln. Einige kichern und spielen mit ihren Haaren. Eine zieht sogar ihren Ehering aus.

»Chezden Dario«, liest die Richterin. »Sie werden des Menschenraubes von Kaia Bersa beschuldigt.« Das übliche Gerichtsprozedere folgt. Von der Verlesung der Anklageschrift durch den Staatsanwalt bis hin zu den Schlussvorträgen läuft alles nach den Anlagen.

»Das sieht nicht gut aus. Der bekommt bestimmt lebenslänglich.« Bennet ist überzeugt. Er und seine beste Freundin lungern schon den halben Tag im Café herum, um die Abhandlung ja nicht zu verpassen. Farah rümpft die Nase. »Er hat aber einen sehr guten Anwalt.«

»Stimmt. Reiche Leute kommen immer mit allem davon.«

»So reich ist er eigentlich gar nicht. Ich glaube, er könnte vielleicht eine verkürzte Strafe bekommen. Mehr auch nicht. Ich meine, immerhin haben sie die Leiche eines Neugeborenen in seinem Van gefunden.«

Bennett hält inne. Er wollte gerade in sein Sandwich reinbeißen. »Ich hab die Bilder auch gesehen. Kranke Scheiße. Aber es wird doch davon ausgegangen, dass Kaia ihm den Van entwendet hat?« Farah runzelt die Stirn. »Das war seine Aussage. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass dieser komische Abschiedsbrief wirklich von ihr selbst war?«

Hätte ja sein können. Vielleicht hat Kaias Kult-Besitzer-Exfreund, der schon mehrmals vorbestraft ist und sie Tage vor ihrem Verschwinden zufälligerweise beim Fremdgehen mit einer Frau erwischt hat, sie echt nicht auf dem Gewissen. Er hatte zu dem Zeitpunkt zwar kein Alibi und doch jedes denkbare Motiv. Aber es muss ja nicht alles immer auf die interessanteste Verschwörungstheorie hinauslaufen.

»Wie lautet das Urteil euer Ehren?« Mr Kenny, ein sehr angesehener Rechtsanwalt, steht auf. Er hat seiner Zeit viele Filmregisseure, die sich an ihren minderjährigen Kleindarstellern vergriffen hatten, vor einem langen Gefängnisaufenthalt bewahrt.

Die Richterin rückt ihre Brille zurecht. »Nun ja ...«

In diesem Moment hält beinahe die halbe Nation den Atem an. In der Taverne wird es mucksmäuschenstill. Mama Dominguez drückt sanft die Hand ihres Mannes. Die zwei Freunde und die Kellnerin, die ihnen ihre Coca Cola gerade servieren wollte, schauen auf. Hoffentlich verrottet er im Gefängnis; ein unausgesprochener Gedanke jener, die tugendhafte Moralvorstellungen haben.

»Angesichts der fehlenden Beweise erklärt ihn das Gericht für nicht schuldig.« Klopf. Klopf. »Sie sind entpflichtet, Mr Dario.«

Chezden blinzelt zum ersten Mal von seinen Handschellen auf. Sein Blick schießt direkt zur Kamera, die seine Reaktion aufnehmen soll. Ein breites, widerliches Grinsen formt sich auf sein kantiges Gesicht. Für die Zuschauer Zuhause ist es ein ästhetisch schöner und angsteinflößender Anblick zugleich.

Während er zufrieden den Saal verlässt, zetteln die Menschen in den Kneipen und Esslokalen einen Aufstand an. Die Bevölkerung Amerikas ist aufgebracht. Die Mehrheit ist der Meinung, dass Dario allemal dahinterstecke und der armen, zarten Neunzehnjährigen samt unschuldigem Baby übel zugespielt habe. Dass das mit der eigentlichen Realität nicht übereinstimmen könnte, ist egal.
Er ist nunmal Frankenstein und sie die wütende Meute mit Mistgabeln.

Irgendwo in den Untergrundtunneln in Texas ...

Auf dem Plasmabildschirm kann man einen unmotivierten Chezden sehen. Er geht mit Kenny an der blitzenden Presse vorbei ohne sie zu registrieren, geschweige denn irgendwelche ihrer Fragen zu beantworten.

»Alles klar.« Giftig grüne Augen weiten sich. Der Mann, der am anderen Ende der Tafelrunde sitzt, lächelt und hebt sein Cocktailglas. »Damit ist die Opfergabe abgeschlossen. Prost.« Die anderen Männer stimmen zufrieden ein. »Prost.«

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⏰ Letzte Aktualisierung: May 28, 2020 ⏰

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Miseren eines Seelenlosen (Akt 1 und 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt