30. „Dann haben wir keine Zukunft."

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... oder „Halt mir deine kruden Moralvorstellungen vom Leib."
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„Ich liebe dich, Bruder." Einem Impuls folgend griff Liv nach dem Kopf ihres Zwillings.

Er ließ es zu.

Vielleicht erwartete er eine Umarmung.

Vielleicht nahm er die kleine Gestalt seiner Schwester nicht als ernsthaften Gegner wahr.

Vielleicht dachte er nicht nach, zu sehr hatten ihre Worte ihn überrascht.

Was es auch war, es kostete ihn seine Existenz.

Mit einer einzigen fließenden Bewegung brach Liv ihm das Genick und riss ihm den Kopf von seinen Schultern. Entsetzt und erleichtert zugleich sah sie auf ihre Hände, die den bleichen Kopf ihres Bruders umklammert hielten. Wie hatte sie das tun können? Warum hatte sie das getan? Seit wenigen Sekunden rauschte das Erbe durch die Adern der Erstgeborenen. Es rettete ihr das Leben, machte sie aber zu einem Monster, das sie nie hatte werden wollen. Ihr Magen rebellierte, ihre Gedanken schrien, Blut rauschte und ihren Ohren. Sie stand ganz still. Ihr Blickfeld wurde immer kleiner, ein untrügliches Zeichen dafür, dass eine Ohnmacht drohte. Aber nichts geschah. Kein Vergessen. Kein Ausweg. Sie musste sich dem stellen, was sie getan hatte.

Schnell ließ den Kopf fallen, rappelte sich auf und entfernte sich im Blut schlingernd von dem Leichnam. Wieder bockte ihr Magen auf, wieder hoffte sie darauf, dass die Schwärze einer Ohnmacht sie willkommen heißen würde.
Nichts.

Nach wenigen Schritten fiel sie auf die Knie, ergab sich keuchend dem Schmerz jemanden getötet zu haben. Ihren Bruder getötet zu haben.  Ihre Gedanken schrieen sie noch immer an: Mörderin. Mörderin. Mörderin. Im Rhythmus des rasenden Pochens ihres Herzens hörte ihre innere Stimme nicht auf sie anzubrüllen, zu verurteilen, zu quälen. Ihre Finger verkrampften sich, ballten sich zu Fäusten. Dumpf pochend spürte sie den körperlichen Schmerz, drückte fester zu, verletzte das zarte Fleisch ihrer Handinnenflächen, in der Hoffnung diese physische Pein würde die Qual ihrer Seele übertünchen.
Nichts.

„Erbin", wisperte Abagrion und durchbrach damit die unheimliche Stille in der Eingangshalle des Anwesens des Seelenfängers.
Liv zuckte bei der Anrede zusammen. Das war sie. Die Erbin. Die Seelenfängerin. Mörderin.
Wie war das passiert? Wie war ihr Leben so schnell eskaliert?

Als sie sich erhob, war ihr Lächeln ein kleines bisschen zu breit, zeigte ein kleines bisschen zu viele Zähne, in Anbetracht der Tatsache, dass ihr Zwillingsbruder tot zu ihren Füßen lag. Bei genauerer Betrachtung erinnerte es Jasper an die Drohgebärde eines Tieres. Das Zähnefletschen eines Wolfes, der sein Gegenüber warnte, bevor er angriff. Das war nicht Liv. So war sie nicht.

Als Liv den Kopf ihres Bruders von dessen Schultern gerissen hatte, hatte Jasper mit aller Kraft gegen die eiserne Umklammerung von Abbadons Geist aufbegehrt, der ihn zur Bewegungslosigkeit verdammte. Zu einem Zuschauer. Hilflos. Noch nie hatte er sich so hilflos gefühlt. Ihm blieb nur Liv anzusehen. Zuzusehen. Sie zu beschwören sich zu wehren. Er spürte jeden Schlag, jeden Tritt. Das Pochen der Wunde an ihrem Oberschenkel. Angst flutete seinen Körper. Angst um sein Leben. Liv war sein Leben. Er musste ihr das unbedingt sagen. Sofort.

Als Liv den Kopf ihres Bruders von dessen Schultern gerissen hatte, hatte Jasper aufgehört sie zu spüren. Er wusste nicht, was sie fühlte. Wie es ihr ging. Was er tun sollte. Er sah nur ihren regungslosen Körper, das erstarrte Gesicht. Den Kopf ihres Bruders in ihren Händen. Das hatte er ihr ersparen wollen. Niemals hätte sie gezwungen sein dürfen das zu tun. Er hätte dem Wunsch des Herrn nicht entsprechen dürfen. Er hätte der Bitte nach Vertrauen nicht nachkommen dürfen. Er hätte Fenix töten sollen, egal welche Konsequenzen das für ihn gehabt hätte.

Guardian DemonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt