Teil 6 - Eine merkwürdige Unterhaltung

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"Was Hunter sind, weiß ich wohl. Aber was ist ein Floormaster?", fragte YN verwundert. Hisoka griff sich mit der linken Hand in den Nacken und begann zu erzählen. "Du kennst die Himmelsarena? Gut, dort finden Kämpfe statt, wenn man gewinnt, bekommt man Geld dafür. Ab einem bestimmten Stockwerk und auch Fähigkeitenlevel darf man so ein Stockwerk bewohnen, wenn man erfolgreich ist. Ich bin erfolgreich."

Das war anscheinend die Kurzfassung, das kann noch nicht alles gewesen sein, aber immerhin ein Anfang.
Ist Hisoka also eine Berühmtheit? Hat er den Drang, sich kämpferisch beweisen zu müssen, in etwas Positives gewandelt oder wird dort vielleicht nicht nur gekämpft, sondern auch... ? Wenn er ein Stockwerk bewohnt, muss es ja bedeuten, dass er keine finanziellen Probleme hat oder nicht?

Völler Scham blickte YN sich um. Ihre kleine 1-Zimmer-Wohnung kam ihr mit einem Mal noch schäbiger vor als bisher. Die vergilbten Tapeten an den Wänden und der alte Holzboden stimmten sie traurig. Ebenso ihre minimalistische Einrichtung mit nur wenigen persönlichen Sachen störten sie plötzlich. YNs Familie war weder wohlhabend gewesen noch lebten sie damals an der Existenzgrenze, aber seitdem sie alleine in Yorknew City wohnt, war es nicht einfach gewesen, sich über Wasser zu halten. Die Mieten waren, auch in den unbeliebten Bezirken, hoch und die Arbeit in der Bibliothek würde sie niemals reich machen. Doch das spielte keine Rolle.
Schließlich war ihr Geld nie wichtig gewesen. Wichtiger war, was man aus dem Leben machte und worauf man am Ende zurückblicken konnte. Zufrieden mit sich und dem eigenen Leben wollte YN irgendwann Resümee ziehen, wenn es so weit sein sollte. Es ging ihr nicht darum, dass sie die Karriereleiter am höchsten erklommen hatte und auch nicht darum, dass sie voller Ruhm in die Geschichtsbücher eingehen würde.
Im direkten Vergleich mit Hisoka fühlte sie sich jedoch schlecht. Genügte es ihr wirklich, wenn sie zufrieden mit sich war oder wollte sie sich anderen gegenüber in irgendeiner Art und Weise profilieren?
Sie seufzte.

Aber er hat etwas preisgegeben, jetzt weiß ich wo er wohnt und was er beruflich macht. Schön für ihn, dass er Erfolg hat!

Starrsinnig kniff YN ihre Augen zusammen und fixierte den Mann auf ihrem Sofa. Er erwiderte ihren Blick und fing wieder an zu schmunzeln. "Und jetzt, da ich dir deine Frage beantwortet habe, bist du an der Reihe. Das war der Deal."

"Welcher Deal?", platzte es aus YN heraus ohne dass sie nachgedachte, was sie überhaupt von sich gab. "Wenn ich gewusst hätte, dass es einen Deal gibt, hätte ich bestimmt nicht gefragt!"

Das war gelogen.

In Wahrheit brannte YN darauf, mehr zu erfahren. Hisoka war anders als ihre üblichen Gesprächspartner. Er war ohne Ankündigung in ihr Leben getreten. Er war einfach da und sie kannte den Grund oder die Ursache nicht. Zusätzlich hatte er ihr nicht eine Frage zufriedenstellend beantwortet.
Sie wollte aber auf keinen Fall aufdringlich wirken oder eine unangebracht Frage stellen. Im nächsten Augenblick wurde ihr Gesicht wieder weicher, ihre Augen waren nicht mehr zu schmalen Schlitzen verzogen und ihr Mund entkrampfte sich. "Was kannst du denn von mir wissen wollen?", fragte sie, ein wenig trotzig und gleichzeitig etwas niedergeschlagen ob ihres unspektakulären Lebens.

"Dafür, dass Du in der Bibliothek still vor dich hinarbeitest und einige deiner Kollegen meidest, bist du Zuhause ein vorlauter Wirbelsturm. Das habe ich nicht erwartet." Hisoka richtete sich auf, ging zu ihr herüber. "Aber ich mag das." Er zeigte seine Zähne.

Woher weiß er das schon wieder? Er muss mich beobachtet haben oder eine Informationsquelle haben. Arbeitet er etwa doch mit den drei Männern zusammen, die mir nachgestellt haben?

Hisoka stand nun direkt vor ihr. Seine eindrucksvolle Größe wurde YN just in dem Moment bewusst. Er war nicht nur, wie ihr bereits aufgefallen, ein sehr großer Mensch, er hatte auch eine besondere Ausstrahlung, die im Gedächtnis bleibt. Widerwillig musste sie zugeben, dass sie sich in dem Moment von ihm angezogen fühlte. Je näher Hisoka ihr gekommen war, desto schneller schlug ihr Herz und in ihrer Magengegend kribbelte es umso heftiger, da sie seinen Atem über ihr spüren konnte.

Obwohl sie sich nicht berührten, konnte YN seine Nähe deutlich vernehmen. Ihre Nackenhaare richteten sich auf, ihre Atmung wurde schwer. Die Spannung zwischen den beiden war in der Luft greifbar, beinahe so als würde man feine Nadeln mit den Fingerkuppen streifen. Hisoka sah von oben auf sie herab, sein Gesicht war ernst. "Ich werde jetzt gehen", verkündete er in gelassenem Ton aus heiterem Himmel.

YN riss ihre Augen auf, sie verstand nichts mehr.

Ich habe etwas Falsches gesagt! Habe ich ihn genötigt, mir etwas über sich zu erzählen? Vielleicht durfte er gar nicht preisgeben, dass er in der Himmelsarena arbeitet.

Er glitt an ihr vorbei Richtung Wohnungstür, schnippte vorher einmal mit dem Finger, um sein Bungee Gum zu lösen und schon war er verschwunden.

Ein bisschen enttäuscht, dass er gegangen war, schaute YN sich in ihrer Wohnung um. Sie war wieder allein und noch am Leben. Anscheinend sah Hisoka YN nicht als Bedrohung an, um sie aus dem Weg räumen zu müssen. Ohne ein Wort des Abschieds hatte er sie stehen lassen. Ohne eine weitere Antwort war er gegangen und ohne eine Frage zu stellen, die er doch unbedingt stellen wollte.

Meine Knie zittern, ich muss mich setzen.

Sie nahm auf dem Sofa Platz, wo er zuvor gesessen hatte. Sie hatte noch immer das Gefühl, dass er auch jetzt in irgendeiner Weise anwesend war.

War es sein Geruch oder sein Bungee Gum? Er ist zwar weg, aber dennoch da...
Wieso ist er blitzartig gegangen? Ob er jetzt Probleme bei der Arbeit bekommen wird? Ist es, weil ich ihn böse angestarrt habe?
Oder hat er gemerkt, dass mir nicht entgangen sein kann, dass er materiell besser gestellt ist als ich? Glaubt er, dass ich es ihm nicht gönne? Oder meint er vielleicht sogar, dass ich ihn beneide?
Es muss sein Geruch sein, ich kann ihn noch immer riechen. Ich kann riechen, dass Hisoka da war. Woran erinnert mich das?

Dass er so einen bleibenden Eindruck in ihr hinterlassen würde, hätte sie nicht erwartet. Genau so wenig, wie sie erwartet hatte, dass er ernsthaftes Interesse an ihr gezeigt hätte. Schließlich war er einfach gegangen.
Traurig erhob sie sich und machte sich bettfertig, ihre Gedanken weiterhin um Hisoka kreisend.

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