Teil 7 - Ablenkung

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Die Tage zogen sich. YN musste permanent an den jungen Mann denken, der neulich in ihrer Wohnung auf der Couch gesessen hatte und mit dem sie ein merkwürdiges Gespräch geführt hatte.
Bei der Arbeit räumte sie gedankenverloren einige schwere Bücher ins Regal, als sie in weiter Ferne eine Stimme vernahm.

"Hallo YN, ich rede mit dir", es war Kaito, der sich ihr lächelnd genähert hatte ohne dass sie es mitbekommen hatte. YN begrüßte ihren neuen Kollegen geistesabwesend, merkte jedoch, dass seine großen Augen auf ihr ruhten. "Ist alles in Ordnung? Du wirkst abwesend. Ist irgendwas passiert?" fragte er sichtlich besorgt.

Hisoka ist passiert!
Ich kann nicht aufhören, an ihn zu denken. Seit einer knappen Woche habe ich nichts mehr von ihm gehört. Seit er bei mir in der Wohnung war und fast sofort wieder gegangen ist, frage ich mich, ob es meine Schuld war, dass er ohne Weiteres verschwunden ist.
Tja, warum sollte er mich auch aufsuchen? Wer bin ich denn für ihn?

"Nein, es ist alles gut, Kaito. Entschuldige, ich war nur gerade kurz abwesend... Was wolltest du?", fragte YN, indem sie sich zwang, ihre Gedanken von Hisoka abzuwenden.
Kaito hob entschuldigend die Hände. "Eigentlich gar nichts Spezielles." Sein Gesicht wurde rot und er kratzte sich unsicher den Hinterkopf. "Brauchst du Hilfe beim Einräumen der Bücher?", stammelte er, sein Gesicht wurde noch röter.
YN zog ihre Mundwinkel hoch und nickte. Sie nahm sein Angebot gerne an, denn es waren schwere Bücher, die teilweise ins oberste Regalfach gehörten. Kaito machte sich sofort ans Werk und es stellte sich heraus, dass er tatsächlich eine große Hilfe war.

Nach einer Dreiviertelstunde waren sie fertig und setzten sich zum Verschnaufen an den nächstgelegenen Arbeitsplatz.

"Hättest du die alle alleine eingeräumt, wenn ich nicht aufgetaucht wäre?", fragte Kaito noch ein wenig außer Atem.
Ertappt schaute YN auf die Tischplatte. Sie fragte nicht um Hilfe, wenn es nicht absolut notwendig war. Auch jetzt hätte sie die Bücher selbst hochtragen können, aber da Kaito nun einmal direkt gefragt hatte, hatte sie es nicht ausgeschlagen. Tief in ihrem Inneren wollte sie keine Last sein, egal in welcher Hinsicht.

Lieber würde sie stundenlang umherirren, auf der Suche nach einer Karte, als eine Person nach dem Weg zu fragen.

"Ach, das hätte ich schon geschafft. Aber vielen Dank für deine Hilfe, Kaito. Wirklich." Sie versuchte das Thema zu wechseln. Sie wusste noch nichts über ihren Kollegen und fragte ihn vorsichtig nach seiner Familie, ob er Geschwister hat, wo er wohnt und wie er zu der Arbeit in der Universitätsbibliothek gekommen war. YN achtete genauestens darauf, keine unangebrachte Frage zu stellen, die ihr Gegenüber in Bedrängnis bringen könnte - eine Frage beantworten zu müssen, die unbeantwortet bleiben sollte.
Kaito erzählte ihr, dass er einen älteren Bruder hatte, dieser aber beruflich viel unterwegs sei und sie sich deswegen selten sahen. Seine Eltern lebten nicht in Yorknew City, sie kamen aus einer Kleinstadt von der YN noch nie etwas gehört hatte. Eigentlich wollte Kaito an der Universität studieren, aber er wurde nicht angenommen und so überbrückt er seine Wartezeit mit der Arbeit in der Bibliothek. YN erfuhr auch, dass er gerne Bücher las und sich für historische Architektur interessierte, weshalb er unbedingt Architekt werden wollte.

Wow, war für ein Typ. Gebildet und gut aussehend! Und seine großen grauen Augen erst...

Nach einer Weile stellten sie fest, dass sie sich bis kurz vor Bibliotheksschluss unterhalten hatten. Gemeinsam rückten sie alle Stühle in dem Bibliotheksbereich zurecht und ordneten die Computerarbeitsplätze.

Schließlich schlug Kaito vor, dass sie gemeinsam zum Mitarbeiterbereich gingen, um Feierabend zu machen.
Dort angekommen kramte jeder seine Sachen aus seinem Spind und zusammen verließen sie das Gebäude.
Es musste kurz vor Mitternacht sein. Freitags war die Bibliothek bis 23 Uhr geöffnet, was den Hintergrund hatte, dass die Studenten die Abendstunden vor dem Wochenende intensiv nutzen konnten. YN merkte, dass Kaito mit einem Mal hektisch wurde. Er schaute YN immer wieder aus dem Augenwinkel verstohlen an.
Dann fragte er aus heiterem Himmel: "Sag mal, YN, hast du morgen etwas vor? Wollen wir morgen eventuell einen Kaffee zusammen trinken?" Die Frage schoss aus seinem Mund, als ob er sie schnell hinter sich bringen wollte.
Perplex, weil sie davon überrumpelt wurde, starrte sie ihn verwundert an. "Ja, sehr gerne", mehr brachte sie nicht hervor, fing sich aber relativ schnell wieder und strahlte ihn an. Sie verabredeten sich für den Nachmittag und machten einen Treffpunkt aus.

Wow, das kam unerwartet. Ich muss mir unbedingt etwas Schönes zum Anziehen raussuchen. Wir sind ja schon auf einer Wellenlänge und die Gesprächsthemen werden uns auch bestimmt nicht ausgehen. Ich freue mich schon irgendwie.

Nun da sie wieder bei klarem Verstand war, freute sie sich wirklich auf den Nachmittag mit Kaito. Soziale Kontakte würden ihr definitiv gut tun. So sehr sie ihre Einsamkeit liebte, brauchte sie dennoch ab und zu menschliche Wesen um sich herum.

Sie stieg in die Straßenbahn, nachdem sich ihre Wege getrennt hatten, und saß voller Vorfreude am Fenster. Yorknew City war bei Nacht eine sehr schöne Metropole. Überall sah man die bunten Lichter, die das Leben bezeugten.

An ihrer Haltestelle angekommen, verließ sie die Bahn und stand auch schnell vor dem mehrstöckigen Gebäude, welches sie ihr Zuhause nannte. Zufrieden ging sie den Flur zu ihrer Wohnung herauf.

Morgen wird ein guter Tag!

Gelegenheit macht LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt