Ava

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Ich schaute von meinem Buch hoch, als ich das Aufheulen von Sirenen aus meinem Fenster hörte. Blaue und rote Lichter blitzen entfernt auf und spiegelten sich in den Regentropfen meines leicht geöffneten Fensters wieder.
Sirenen sind hier keineswegs unüblich. Ich lebe zusammen mit meinen Eltern, meiner Zwillingsschwester und einer eigensinnigen Katze am Rande einer Stadt mit etwa 70.000 Einwohnern, da kommt es schonmal häufiger vor, dass die Sirenen am eigenen Haus vorbeifahren.

Ungestört richtete ich keinen Fokus wieder auf mein Buch. Ich war fast am Ende angelangt, es fehlten nur noch ungefähr 25 Seiten. Wobei, eigentlich nur noch 23, ich habe die Angewohnheit entwickelt, die letzten Seiten immer zuerst zu lesen. Eine Sünde würden manche vielleicht behaupten, doch ist es nicht spannend, das Ende zu wissen, aber es doch nicht zu kennen? Ohne Zusammenhänge, ohne die Charaktere ins Herz geschlossen zu haben, ist das Ende doch nichts weiter als unbedeutende Zeilen, so meine Theorie. Doch trotzdem den groben Lauf der Handlung am Ende festzumachen, gibt mir ein Gefühl der Sicherheit.

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Mit Tränen in den Augen schloss ich das Buch. Obwohl ich das Ende am Anfang des Romans gelesen habe, kam es doch so unerwartet. Das altbekannte Gefühl, was man hat, nachdem man ein gutes, ergreifendes Buch zuende gelesen hat, überkam mich wieder. Was mache ich jetzt, wo ich nicht mehr in der unrealen Welt mit meinen unrealen Freunden sein kann? Seufzend schaute ich mir das Cover ein letztes Mal an, bevor ich es zurück in das Regal, mit meinen anderen Welten schob.

Ich stand auf, und ging ins Badezimmer, gegenüber von meinem Zimmer. Meine Zwillingsschwester, Liv, hat ihr Zimmer am Ende des Flures. Normalerweise würde ich jetzt in ihr Zimmer gehen, und ihr von dem Buch erzählen, stattdessen aber spritzte ich mir kaltes Wasser im Badezimmer ins Gesicht.
Liv ist heute mit ihrer besten Freundin im Kino und deswegen im Moment nicht zu Hause.

Bei Zwillingen würde man vielleicht erwarten, dass man hauptsächlich die gleichen Interessen und einen ähnlichen Freundeskreis hat, doch Liv und ich sind sehr verschieden. Man könnte sagen, sie ist die Sonne, ich bin der Mond. Extrovertiert, kommunikativ und selbstbewusst würde man sie nennen. Mich hingegen würde man als zurückhaltend, ruhig und nachdenklich beschreiben. Stören tut es mich nicht, dass wir so verschieden sind, wir beide wissen, charakterlich ähneln wir uns  kaum, dafür äußerlich sehen wir wie fast wie die gleiche Person aus.

Wir beide haben brustlange braunblonde Haare, wobei sie sich oft aufwendige Frisuren macht und ich sie lieber einfach nur offen trage. Eine Brille hat auch jeder von uns, nur wir beide bevorziehen Kontaktlinsen. Die blaugrauen Augen haben wir von unserer Mutter, meine Schwester ist so glücklich und hat auch ihre niedliche Nase geerbt, meine ähnelt dann mehr der Nase meines Vaters, mit einem kleinen Hügel. Liv ist um ein paar Centimeter größer als ich, dennoch würde ich mich trotzdem als groß für eine Frau bezeichnen.
Liv und ich wurden in der Grundschule oft Giraffenschwestern genannt, weil wir immer die Größten der Klasse waren. Das hat sich zum Glück geändert, als wir auf die High School kamen, und vor allem die Jungs dann auch alle einen großen Wachstumsschub hatten.

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Ich lag noch eine Weile in meinem Bett und scollte auf Instagram. Meine Schwester hatte auch ein Bild von dem Film im Kino in ihrer Story, sie und ihre Freundin haben wohl DUNE geschaut. Der Film sollte schon zu Ende sein, bestimmt ist sie noch bei ihrer Freundin zu Hause oder sie fahren wieder durch die Stadt.
Liv ist da gerne spontan.

Da es aber auch eben die letzte Ferienwoche vor den kommenden drei Wochen mit den Examen dieses Semesters ist, versuchen viele das im Begriff von Parties noch zu verbringen. Hätte ich die Freunde und Kontakte, würde ich auch mitkommen, nur leider habe ich die nicht. Liv hat mich zwar schonmal mitgenommen, aber da sie ihre ganzen Freunde dort hatte, fühlte ich mich unwohl und etwas fehl am Platz. Seitdem war ich auf keiner Party, wobei ich immer den Eindruck habe, das es eigentlich eine echt tolle Atmosphäre ist. Aber so das nun mal. Wenn meine Persönlichkeit da nicht ganz richtig passt, soll es wohl auch nicht sein.

Ich wurde leicht aus meinen Gedanken gerissen, als es unten klingelt. Liv hat ihren eigenen Schlüssel und käme so ins Haus, deshalb lausche ich, wer es sein könnte.
Ich höre, wie meine Mutter die Tür öffnet. Es war eine männliche Stimme wahrzunehmen, aber die Worte konnte ich nicht klar verstehen. Ich beschloss meine Zimmertür aufzumachen, um herauszufinden, wer es sein könnte. Ich tippe ja auf unseren Nachbarn. Er ist etwas seltsam und oft auf Geschäftsreise oder so, und fragt deswegen öfters, ob wir uns um seine Fische kümmern könnten.
Ich konnte immer noch nicht viel besser etwas dem Gespräch entnehmen, weshalb ich mich dazu entschloss, die Treppe nach unten zu gehen. Wenn es unser Nachbar wäre, würde ich sowieso die Person sein, die sich schlussendlich um die Fische kümmert.

Doch an der Tür war nicht unser Nachbar. Ich zog meine Augenbrauen verwirrt zusammen, als ich einen Polizisten in seiner Uniform und einen anderer Mann in unserem Wohnzimmer erblickte. Skeptisch und leicht nervös ging ich auf das Sofa, auf dem meine beiden Eltern nebeneinander saßen, zu. Ich merkte wie der Polizist gerade anfangen wollte zu reden, jedoch nahm er mich kurz davor noch war. Mein Vater stellte mich vor:

"Das ist Ava, unsere Tochter. "

Kurz und knapp. Mein Vater hat wohl auch gemerkt, dass etwas falsch ist, er ist sonst recht kommunikativ.

Der Polizist schlug vor, dass ich mich ebenfalls erstmal setzen sollte. Mich überkam ein mulmiges Gefühl, irgendwas stimmte nicht.

"Ihre Tochter, Olivia, hatte vor circa einer Stunde einen Verkehrsunfall und starb noch an der Unfallstelle."

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jan 07, 2022 ⏰

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