Jedes Jahr trafen sich die Hohepriester auf der Insel Celeste, um wichtige Angelegenheiten zu besprechen. Auch dieses Jahr hatte Alvar die beschwerliche Reise auf sich genommen und jede verdammte Strapaze hatte sich gelohnt. Er hatte die anderen elf Hohepriester, die wie Geschwister für ihn waren, auf eine ganz eigene Art vermisst und genauso wie es unter echten Geschwistern auch war, mochte er den einen ein bisschen mehr, als den anderen. Tjaras Lachen, Siljas ruhige Präsenz, die geistreichen Debatten mit Laja, das alles war ihm seit dem letzten Treffen vorenthalten gewesen. Alvar hatte zwar versucht sich von seinen Pflichten zu befreien, aber es war ein turbulentes Jahr gewesen.
Einer der alten Fürsten hatte sich in den Kopf gesetzt, dass die anderen ihn vorzeitig umbringen wollten, da sie seine Ländereien begehrten. Er hatte sogar vier Verbündete gefunden, die zwar nicht die geringste Chance gegen die anderen sieben gehabt hätten, aber trotzdem hatte es das Eingreifen der Hohepriester bedurft, um einen Krieg zu verhindern.
Die Fürsten und Könige durften zwar ihre Ländereien selbst verwalten, doch es waren die zwölf Stjoren, die schlussendlich die wichtigen Entscheidungen trafen und das Land regierten. Die Lenkung der Macht durch die Hohepriester hatte dem Land selbst bisher eine Lange Periode des Wohlstands und des Friedens gewährleistet, doch das Volk hatte sich noch nicht vom Terror des Krieges jenseits der Fjorde erholt. Ihre Verbündeten hatten ihre Truppen bitter benötigt und nur um Haaresbreite hatten sie das Blatt zum Sieg wenden können. Diese Truppenbewegung vor zwei Jahren hatte allen bewusst gemacht, wie schnell Friede zu Kampf umschlagen konnte – leider auch Verschwörungstheoretikern, wie diesem alten Fürsten.
Alvars persönliches Eingreifen war erforderlich gewesen und er hatte eine langwierige Diskussion über sich ergehen lassen müssen – was ungewöhnlich war. Meistens reichte ein missbilligender Blick von ihm, und die Leute krochen im Staub vor ihm. Sie fürchteten und verehrten ihn gleichermaßen, da er der einzige in ganz Midgard war, der einen Zugang zu der Sprache der Götter hatte. Die Runen hatten ihn schon in seiner Kindheit gerufen, hatten ihm Sachen zugeflüstert. Geheimnisse, Visionen, aber auch Blicke in die Vergangenheit hatten ihn vor seiner Priesterausbildung praktisch angesprungen, aber vor allem hatten sie ihn geängstigt.
Nachdem er mit fünf Jahren kreischend und haareraufend aus der kleinen Hütte gerannt war, hatten auch seine Eltern begriffen, dass er ohne ausreichende Ausbildung diese Gabe, oder besser gesagt diesen Fluch, nicht überleben würde. Der örtliche Priester war mit seinen Fähigkeiten überfordert gewesen und auch die Priester der größeren Städte, weshalb er nach mehreren Tests schließlich von den Hohepriestern vorgeladen wurde.
Diese hatten ihn ebenfalls geprüft und nach zwei in Flammen aufgegangenen Runenbeuteln, hatten sie angesichts der Gefahr die von ihm ausging und seines Potentials beschlossen ihn aufzunehmen. Die Elf hatten ihn abwechselnd auf Celeste, im Tempel unterrichtet und dank jahrelangem Training, einigen Zwischenfällen und auch Experimenten, war er jetzt Herr der Gabe und konnte sie bewusst lenken. Für den Besuch im Tempel, der während seines Trainings für über ein Jahrzehnt seine Heimat gewesen war, nahm er gerne die anstrengende Reise auf sich, auch wenn es hieß seinen Orden für eine Zeit alleine zu lassen. Er bezweifelte nicht, dass die anderen seine Abwesenheit nutzten, um einige ausgelassene Feste zu feiern und sich zu Vergnügen.
Trotz der Tatsache, dass das Volk die Priester wie Heilige verehrte, täuschte der Eindruck nur. Denn auch wenn sie ihr Leben den Göttern gewidmet hatten, hieß das nicht, dass sie die Freuden des Lebens nicht in vollen Zügen genießen durften. Im Gegenteil, wenn ihre Seelen am Ende der Welt – der Götterdämmerung, Ragnarök – auf Seiten der Götter, also der Asen und Wanen, kämpfen sollten und sie schon im Vorhinein wussten, dass sie verlieren würden und den Aufstieg der neuen, geläuterten Welt teilweise nicht mehr miterleben würden, war es doch umso mehr ein Grund, das Leben hier und jetzt vollständig auszukosten. Alvar hätte zu gerne mit seinen Ordensbrüdern und -schwestern einem solchen Fest beigewohnt, anstatt den faden Diskussionen der Botschafter aus dem Osten ausgesetzt zu sein. Diese Treffen waren zwar unglaublich wichtig, aber er war es leid, das zehnte Jahr in Folge dem selben Geplänkel der Botschafter aus dem Westen zu zuhören.
Er versuchte sich unbemerkt auf seinem Stuhl zu recken, sofern man das Gebilde auf dem er saß überhaupt einen Stuhl nennen konnte. Alle Hohepriester saßen auf kunstvoll verzierten Möbelstücken aus purem Celestin. Die einmalige Handwerkskunst und der beeindruckende Effekt der Stühle, wenn das Licht aus dem richtigen Winkel auftraf, waren zwar wirklich eine Augenweide, doch seine armen, erschöpften Knochen mussten darunter leiden. Er zählte die Minuten, wenn sie diese Versammlung für beendet erklären würden und sich die Hohepriester in ihre Privatgemächer mit bequemerem Mobiliar begeben würden. Seit Stunden saßen sie schon zusammen und debattierten.
Rohan, der eine unerbittliche Geduld besaß, würde ihn wahrscheinlich für seine jugendliche Ungeduld schelten und sich danach, wie ein altes Waschweib, ebenfalls über die Stühle – oder Knochenschänder – wie er sie zu nennen pflegte, beklagen. Alvar war mit seinen 26 Jahren keineswegs ein Kind mehr, doch wahr er für die anderen immer der Jüngling oder der Feuerknabe, wie sie ihn liebevoll nannten, wenn sie unter sich waren.Diesen Spitznamen hatte er sich im Laufe der Jahre wahrlich verdient, denn zahlreiche Runenbeutel und Möbelstücke hatten während seines Trainings dran glauben müssen. Den Spitznamen, den das Volk ihm gegeben hatte, belächelte er manchmal. Den Runenflüsterer nannten sie ihn, obwohl es meistens eher ein Anschreien, als ein Flüstern war.
Die veränderte Sitzposition tat ihm wirklich gut und ein Blick auf die Seite verriet ihm, dass die anderen ebenfalls etwas unruhig wurden. Sie behielten die interessierte Maske auf, doch Kjartans Fuß klopfte unruhig, aber vollkommen geräuschlos auf den Boden und auch Hjörtis Finger klopften unruhig auf der Armlehne. Delia, die älteste der Stjoren, machte ebenfalls den Eindruck, als ob sie die nächsten Minuten einschlafen würde. Nun waren seine Nerven endgültig am Ende und er unterbrach die Botschafter:
"Botschafter Tjoren, Botschafter Ragnar wir haben euch angehört und ihr habt eure Anliegen ausführlich ausgeführt, aber unsere Antwort ist die gleiche, wie letztes Jahr: Die Grenze wird nicht verschoben, es werden keine Gebiete abgetreten." Botschafter Tjoren verzog missmutig das Gesicht und versuchte erst gar nicht seine Verärgerung zu verbergen. Ragnar hingegen warf Alvar einen dankbaren Blick zu. "Gibt es sonstige Probleme von denen ihr uns berichten wollt Botschafter Tjoren?"
"Nein, eure Heiligkeit. Außer des Grenzproblems, weiß ich nichts zu berichten", ließ Tjoren mürrisch verlauten, wobei er es nicht wagte, Alvar in die Augen zu schauen. "Will jemand anderes noch ein Anliegen vorbringen?", fragte er und blickte in die Runde. Niemand der Stjoren oder der Botschafter antwortete, weshalb er sich von seinem Stuhl erhob.
Trotz der Tatsache, dass er der jüngste der Stjoren war, war er auf Grund seiner Gabe der oberste Hohepriester und hatte die meisten Befugnisse, deshalb zögerte er nicht, diese jetzt auszunutzen und die erste Versammlung dieses Jahres, vielleicht etwas vorzeitig, zu beenden: "Die Stjoren haben die Urteile gesprochen. Wir werden morgen wieder hier zusammen kommen, und uns den anderen Anliegen widmen. Ich erkläre die Versammlung hiermit für – ", er hatte beendet sagen wollen, doch in dem Moment kam ein Novize durch die hohen Saaltüren herein gestürmt.
"Eure Heiligkeiten! Wir erhielten soeben eine Feuernachricht aus Orsa. Ein Pilger hat sie gefunden, ...", keuchte der Novize vom schnellen Rennen. Innerhalb der Priesterschaft war es üblich, anstatt der normalen, teilweise bis zu Monaten dauernden, Postnachricht eine Feuernachricht zu verschicken. Dazu schrieb man die Nachricht auf ein Blatt, fügte am unteren Rand ein paar Runen hinzu, die wie eine magische Adresse fungierten, bestreute das Blatt mit einem speziellen Pulver, dessen Rezeptur ihnen einst ein Zwerg verraten hatte und verbrannte es.
"Wen hat er gefunden?", fragte der sonst so geduldige Rohan scharf.
"Er hat die Priester und Priesterinnen gefunden, den ganzen Orden – abgeschlachtet."
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Stjoren - Grauen im ewigen Eis
FantasyDie Stjoren - die zwölf Hohepriester - lenken und leiten, mit Hilfe der Götter, denen sie ihr Leben gewidmet haben, ihr Volk. Alvar ist einer von ihnen und doch ist er anders. Das Volk verehrt und fürchtet ihn gleichermaßen. Hinter vorgehaltener Han...