Orsa

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Es war eine harte Nacht für Alvar gewesen. Nach Rohans Unterweisung hatten ihn die Ereignisse des Tages eingeholt und den stillen Bergsee seines Geistes in ein tosendes Meer verwandelt. Irgendwann hatte er den Widerstand gegen seine dunkelsten Gedanken und Selbstvorwürfe aufgegeben, was damit endete, dass er in einen Strudel des Grauens hineingesogen wurde. Schließlich war er doch kurz eingenickt, aber in seinen Träumen sah er seine Ordensbrüder, teilweise zerstückelt, nicht mehr als ein Fleischhaufen, doch größtenteils inmitten einer riesigen Blutlache. Er bezweifelte allerdings, dass es nur Träume gewesen waren. Es wäre zu freundlich von den Göttern gewesen, seine Gabe jetzt auf Stand-by zu stellen. Als er aus der Vision hochgeschreckt war, war er kurzerhand ins Badezimmer gerannt und hatte sich die Seele aus dem Leib gekotzt.

Danach hatte er das Schlafen endgültig aufgegeben und sich auf die Reise vorbereitet. Er hatte seinen Ritualdolch durch den seines Vaters ersetzt und ihn zusätzlich noch einmal geschärft, genau wie sein Schwert. Das Töten auf den Schlachtfeldern hatte ihm nie Freude bereitet, er hatte es aus Notwendigkeit getan, um seine Liebsten zu beschützen. Jetzt, da die meisten seiner Liebsten für immer aus seinem Leben ausgelöscht waren, hatte sich dieser Rest Moral auch endgültig verpufft. Alvar schwor sich, sich viel Zeit mit dem Mörder zu lassen. Dank seiner Heiler Ausbildung wusste er, wo sich die weniger wichtigen Arterien des Körpers befanden. Er würde sie eine nach der anderen aufschlitzen und die Heilung so beeinflussen, dass sein Opfer längst möglich am Leben blieb und den vollen Schmerz der Wunden spüren würde. Vielleicht würde er sich auch von den Wunden seiner Brüder und Schwestern inspirieren lassen.

Alvar hatte seine Priestergewänder abgelegt und seine einfachere Kampfmontur aus Leder angezogen. Er hatte sich gegen die Helle entschieden, dass was er vor hatte, war dunkel und grausam und so sollte auch seine Montur sein. Nachdem er seine Rache bekommen hatte, würde er des Lichtes nicht mehr würdig sein. Vielleicht würde er auch von seinem Posten entlassen werden, wenn das Volk erfuhr, was er getan hatte. Doch es war ihm egal, er hatte niemanden mehr, bei dem es ihn gekümmert hätte, ob er ihn für einen Menschen oder ein Monster hielt.

Seine schulterlangen, aschblonden Haare band er zurück, denn er wollte jetzt keine Ablenkungen zulassen, seien sie auch noch so klein. Er schulterte sein Bündel mit ein paar Waffen, einer zweiten Montur und einem Runenbeutel. Alvar konnte zwar nichts größeres mit den Runen ausrichten, aber vielleicht wäre ein Blick in die kosmischen Bahnen hilfreich. Nachdem er sich noch einmal vergewissert hatte, dass nichts fehlte, machte er sich zu Rohan in die Tempelgärten auf.

Er fand den Hohepriester im Regen, nahe des großen Steinkreises stehen. Von den anderen Stjoren war zum Glück nichts zu sehen. Alvar sich nicht sicher, ob er jetzt weitere Gesellschaft hätte ertragen können, ohne an die Decke zu gehen. Rohan hatte ebenfalls seine Priestergewänder abgelegt und der Mann, um die Fünfzig, kam ihm auf einmal viel jünger vor. Noch kein einziges graues Haar ließ sich auf seinem kastanienfarbenen Haarschopf blicken. Er hätte genauso gut sein älterer Bruder sein können, obwohl er meistens eher wie ein Vater für ihn gewesen war.

"Warum hier im Regen stehen? Warum reisen wir nicht vom überdachten Tempelhof aus ab?", fragte Alvar statt einer Begrüßung, um seinen Geist mit irgendwas anderem zu beschäftigen. "Du glaubst doch nicht, dass unsere Vorfahren einfach aus Jucks und Tollerei einen riesigen Steinkreis aus mehreren Tonnen schweren Megalithen gebaut haben?", fragte Rohan. "Vielleicht haben sie kreativere Bestrafungsmöglichkeiten für ihre Novizen gefunden, als du für mich, erwiderte Alvar trocken.

Rohan kicherte bei der Erinnerung, wie er den damals noch 15-jährigen Alvar mit einem Monat Fußpflege bei den Stammesältesten, für den Besuch einer Party im nächstgelegenen Dorf, bestraft hatte. "Du kannst froh sein, dass ich dich beim Zurückschleichen erwischt habe und nicht der alte Reidar. Dann wärst du froh gewesen, nur einen gigantischen Steinkreis zu errichten." "Warum stehen wir ,wie die Hunde, im Regen?"

Stjoren - Grauen im ewigen EisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt