Teil 12 - Happy Birthday

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Röte stieg YN ins Gesicht. Sie wollte unbedingt, dass er ein guter Mensch war. Sie wollte daran glauben, fast schon zu sehr.

"Ich glaube, du bist..."

Ein erlösendes Klingeln ertönte, das Essen war da.
Hisoka stand auf, ging zur Tür und eine Frau mit einem Servierwagen betrat die Wohnung. YN lugte neugierig hinterher.

Was für Leute arbeiten wohl in der Himmelsarena?

Es stellte sich heraus, dass es sich um eine ältere Dame handelte. Sie war adrett gekleidet und hatte ihre grauen Haare zu einem ordentlichen Dutt hochgesteckt. Trotz ihrer Uniform und ihres Erscheinungsbildes wirkte sie nicht streng, ganz im Gegenteil. Herzlich und freundlich, und aufgrund ihrer Lachfalten um Augen und Mund könnte sie die Oma von nebenan sein.
"Mr. Morrow, vielen Dank für Ihre Bestellung", sagte sie mit ihrer angenehm klingenden Stimme, "der Direktor lässt Ihnen seine Glückwünsche anlässlich Ihres Geburtstages übermitteln. Wenn Sie beide noch etwas benötigen, lassen Sie es mich wissen."
"Danke Agatha, fürs erste brauchen wir nichts."
Sie verbeugte sich und verließ die Wohnung, den Servierwagen hatte sie da gelassen.

Geburtstag?! Heute ist sein Geburtstag? Oh verdammt! Wie gratuliere ich ihm denn jetzt? Nur Händeschütteln ist zu förmlich, aber eine Umarmung ist doch zu viel...

YN umarmte nur ungern und selten, ihr war eine Umarmung teilweise zu intim. Sie verstand nicht, wie einige Mädchen und Frauen sich bei jeder Gelegenheit umarmten: zur Begrüßung und zum Abschied, bei unendlicher Freude und tiefster Trauer oder wenn sie endlich ihre neuen Lieblingsschuhe gekauft hatten.

"Ähm, also... Herzlichen Glückwunsch, Hisoka." Stotternd gratulierte sie ihm aus sicherer Entfernung. "Wenn ich gewusst hätte, dass... dann..." Sie verstummte. Was dann? Sie hatte ihren Glückwunsch, ohne sich auch nur einen Millimeter zu bewegen, ausgesprochen.
Unangenehme Stille machte sich breit. Hisoka schien es nicht zu interessieren, dass heute sein Geburtstag war. Sein Gast auf dem Sofa nahm seine gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch. Er nickte geistesabwesend.
"Lass uns was essen. Ich habe mir erlaubt, nicht nur Sandwiches zu bestellen."

Den Servierwagen zu ihr drehend präsentierte er eine Auswahl köstlich aussehender Sandwiches in den unterschiedlichsten Varianten. Dazu gab es allerlei kleine Schalen mit Snacks und reichlich Obst.
"Bedien dich, du musst am Verhungern sein."

Es stimmte, ihr letzte richtige Mahlzeit war schon länger her. Hisoka setzte sich wieder zu YN aufs Sofa und mit großem Appetit griffen beide zu und aßen, bis sie pappsatt waren. "Du kannst mehr essen als deine Größe vermuten lässt." Sein neckischer Ton war nicht zu überhören. Schweigend strich YN sich einen Krümel vom Mund und wartete. Sie wollte die Hisoka-Taktik anwenden: einfach nicht antworten und abwarten, dass das Gegenüber in Zugzwang geriet. Doch Hisoka biss nicht an. Sie hatte das Gefühl, dass er ein Spiel mit ihr spielte, wie Mütter ihre nervigen Kinder dazu herausfordern, wer am längsten keinen Ton von sich geben kann.

Schließlich seufzte er und holte ein Kartendeck aus seiner Tasche heraus und begann es zu mischen. Wortlos legte er einige Stapel nach einem bestimmten Muster auf den Tisch vor ihnen. Gespannt wartete YN, was passieren würde, obwohl sie sich bemühte, unbeeindruckt zu wirken. Nachdem er sie aufgefordert hatte, eine Zahl zwischen 1 und 13 zu nennen und sich die oberste Karte vom Stapel in seiner Hand anzuschauen, platzierte er weitere Spielkarten in einer Reihenfolge, die für YN keinen Sinn ergab.

Das ist so abgekatert und gleich zeigt er auf eine Karte und es ist mein Kreuz-Ass. Ich hasse Kartentricks.

Als er endlich fertig war, schenkte er ihr wieder sein typisches Grinsen. "Und jetzt nimm alle Karten, mische sie gründlich und such deine Karte heraus."

Hä? Das ergibt doch keinen Sinn. Warum hat er dann das ganze Spektakel veranstaltet? Erst alle Karten sorgfältig platziert und jetzt soll ich sie mischen? Deswegen mag ich keine Kartentricks.

Leicht genervt sammelte YN alle Karten zu einem Stapel, mischte sie und begann die Karten durch ihre Finger gleiten zu lassen - auf der Suche nach dem Kreuz-Ass.
Das Problem war, es gab ihre Karte nicht mehr. "Wo ist meine Karte?", fragte sie irritiert.
Hisoka griff zur Seite und wie aus dem Nichts tauchte das Kreuz-Ass auf, seine Augen leuchteten. "Meinst du die hier?" Er hielt ihr die Karte wedelnd vors Gesicht, er merkte, dass sie keine Erklärung für diesen Trick hatte.

Ich will auch gar nicht wissen, wie er das gemacht hat!

Patzig schaute sie auf die Uhr, die leise an der Wand tickte. "Es ist schon spät, ich sollte jetzt nach Hause gehen", verkündete YN. Die Sonne war längst untergegangen und draußen funkelten die ersten Sterne am Nachthimmel.
Vom Zentrum bis zu ihrer Wohnung war es ein weiter Weg und dieser würde länger als üblich dauern, da die Straßenbahnen nachts in einem weniger eng getakteten Rhythmus fuhren.
"Bitte bleib. Ich werde dich nicht alleine gehen lassen." Hisokas Tonfall war ernst, er macht deutlich, dass seine Aussage nicht verhandelbar war. "Außerdem wäre ich an meinem Geburtstag dann ja ganz alleine." Theatralisch berührte seine linke Hand seine Stirn, mit der anderen wischte er sich eine imaginäre Träne weg und zog die Mundwinkel übertrieben herunter.

Ich kann nicht hier bleiben, aber ich kann auch nicht alleine zurück nach Hause. Da hat er leider Recht, in Yorknew City sollte man um diese Uhrzeit als Frau besser nicht alleine unterwegs sein. Besonders nicht nach meiner schlechten Erfahrung in letzter Zeit. Und er hat Geburtstag, aber das ist kein Argument.

"Ich lasse Agatha kommen. Sie kann dir das Gästezimmer bereit machen", entschied er. Hisoka griff wieder zum Telefon und ließ die ältere Damen kommen.

"Aber es ist doch schon spät und ich will keine Umstände machen. Zur Not schlafe ich auf dem Sofa." schlug YN hastig vor. Sie hasste es, wenn andere wegen ihr zusätzliche Arbeit verrichten mussten. Doch Hisoka hatte bereits aufgelegt, es war entschieden. Es dauerte keine Minute, als die Angestellte klingelnd vor der Tür stand.
Sie huschte rein, nachdem sie die Wohnung betreten hatte, und machte sich sogleich ans Werk.

Das Gästezimmer lag in einem Flur, der vom Wohnbereich abzweigte; sogar ein eigenes Bad war integriert. In der Mitte des Zimmers stand ein Doppelbett, auf dem sich viel zu viele Kissen türmten. Gegenüber gab es ein modernes Sideboard. Die bodentiefen Fenster führten zu einem großen Balkon, von wo aus man die Stadt gut überblicken konnte.

YN war Agatha gefolgt, die sofort anfing das Bett aufzuschütteln. "Im Badezimmer finden Sie alles, was Sie benötigen könnten. Falls Sie doch einen Wunsch haben, rufen Sie mich bitte an - egal um welche Uhrzeit, das Telefon steht auf dem Nachttisch neben Ihrem Bett."
Es war YN sichtlich peinlich, dass sich jemand mitten in der Nacht so viel Mühe machen musste. Agatha ging ins Bad und zeigte ihr alle Dinge, die sich dort befanden. Die Angestellte legte frische Handtücher bereit und drehte die Lüftung auf.
Dieses Gästezimmer war womöglich besser eingerichtet als so manches Hotel.

"Mr. Morrow hat nie Besuch, wissen Sie. Ich möchte, dass Sie sich hier wie Zuhause fühlen", sagte Agatha und lächte sanftmütig. "Wie heißen Sie, Liebes?"

"YN."

"YN, bitte machen Sie sich keine Sorgen. Ich arbeite schon seit einiger Zeit für Mr. Morrow, er ist ein anständiger Mann. Er mag eine harte Schale haben, aber darunter verbirgt sich ein weicher Kern und wenn Sie mir eine Anmerkung erlauben,... Sie beide geben ein hübsches Paar ab."
"Wir sind aber kein Paar!", protestierte YN.
Mit einem Augenzwinkern ließ Agatha sie stehen und war im nächsten Moment verschwunden, irritiert blieb YN alleine zurück.

Wir zwei ein Paar? Von wegen, was weiß die denn schon?

Um die Ereignisse des Tages erst einmal verarbeiten zu können und ihre Gedanken zu ordnen, beschloss YN duschen zu gehen. Sie ging ins Gästezimmer und schloss die Tür ab.
Zurück im Badezimmer atmete sie erst einmal tief durch.

Hisoka und ich...?

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