12 - Wir sind besonders

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Ist bisher etwas Spannendes passiert? Nach den beiden schrecklichen Mathestunden nicht unbedingt. Ich habe nicht mehr zugehört. Mein heimlicher Liebling genauso wenig. Von Eric und Victor muss an gar nicht erst anfangen zu reden. Sie haben Elise ihr Buch wiedergegeben, ehe sie beschlossen haben, alle fünf Minuten sich lautstark zu Wort zu melden. Die Antworten sind genauso schwachsinnig gewesen wie ihr Verhalten. Man hat man Ende nichts mehr machen können – sicher, sie haben sich einen Rüffel von Frau Schrantje eingeholt, aber mal im Ernst: Werden sie es jemals kapieren? Ich zweifele daran. Wie dem auch sei. Nach dem sinnlosen Unterricht habe ich mich zum Musikraum begeben dürfen. Warum ich diesen Kurs ausgewählt habe? Nicht wegen der Gesangsbegabung – ich kann in etwa so gut singen wie ein Kettenraucher im Sopran. Man kann sich dort sehr leicht eine hohe Punktzahl einholen. Man muss nur wissen, wie. Außerdem finde ich den Unterricht sehr entspannt. Klassik und Romantik haben mich nie interessiert, aber man lernt zügig, das Beste daraus zu machen. Elise hat nun ihre regulären Freistunden. Sie hat Musik gleich zu Beginn der zehnten Klasse abgewählt. Ich kann es ihr nicht verübeln – mit Noten hat sie schon immer auf Kriegsfuß gestanden.

Doch die Pause ... Die hat einen prägenden Eindruck hinterlassen. Mehr Schaden als alles andere. Ich habe mich ständig an Mikołajs Nachricht erinnert. Die, als er geschrieben hat, dass er seinen Bruder vor fiesen verbalen Angriffen beschützt hat. Er hat ernst gemacht. Hat die Konfrontation mit Victor quasi gesucht. Nahezu jeder aus der Klasse hat gewusst, was nun folgen wird. Victor, der Möchtegernstarke, der, der jeden mit seinen Worten und selten mit Taten fertigmacht. Entweder so, dass man am Ende den Tränen nahesteht oder sie unachtsam sprießen lässt. Kommt ein Widerstand oder Gegenspruch, wird mit Taten gekontert. Mit ihm will man sich nicht anlegen. Da geht jeder auf Abstand und lässt die Schikanen über sich ergehen. Ich bin bisher verschont geblieben. Es liegt daran, dass ich dafür gesorgt habe. Tanze einfach nach deren Pfeife und verhalte dich stets unauffällig. Aber nicht zu sehr, sonst gerät man schnell ins Fadenkreuz dieser Idioten. Wie das geht? Einfach mit denen reden, wenn sie versuchen, jemanden in ein Gespräch zu holen, und sei es noch so dumm und dämlich. Es hilft. Und dient dem eigenen Schutz.

Klara hat Musik ausgewählt. Sie besucht meinen Kurs. Sitzt ziemlich weit hinten. Letzte Reihe. Am Fenster. Man kriegt sie nicht mit, auch wenn man sich in einem Raum mit ihr aufhält. Sie hockt stillschweigend da, beobachtet nur. Behält uns alle im Blick. Nur, damit sie rechtzeitig reagieren kann. Denn sie weiß, dass wir hier welche haben, die Victor auf dem Laufenden halten. Natürlich hat er sich keine Zeit gelassen. Er scheint förmlich darauf gewartet zu haben, den Raum zu wechseln. Was er für einen Unterricht hätte? Kunst. Warum auch immer. Ich habe mich gerade neben Elias niedergelassen, als es losgeht. Elias, ein Typ mit schulterlangen dunkelblonden Haaren, sieht von seinem schwarzen IPhone auf, als er eingetreten ist. Johanna und Gisele sind ihm ausgewichen, führen ihr Gespräch nichtsdestotrotz fort. Warum Victor sie verbal fertigmacht? Nun, die Antwort liegt eigentlich auf der Hand. Klara ist viel zu dünn. Ihr Kleidungsstil entspricht nicht den gewohnten Standards der Schule. In vielen Augen kommt ihr Verhalten sehr eigen entgegen. Sie sei angeblich seltsam, zu sehr verschlossen. Verrückt. Einer hat sie sogar als ‚durchgeknallt' betitelt. Der Grund? Keine Ahnung. Ich habe es nicht mitgeschnitten. Will es zudem nicht.

„Lumpie! Wie schön, dich wiederzusehen. Hast wohl gedacht, du könntest dich einfach so verziehen?" Victor setzt sich neben sie. Hat wieder sein widerliches Grinsen auf den spröden Lippen. „Da hat's Geld wohl nicht für'n normalen Pulli gereicht, was? Warum überhaupt so'n Scheiß? Gab's keine Säcke mehr, die man als Shirt hätte verwenden können?" Sie lachen. Die meisten, weil sie selbst kein Opfer werden wollen. „So'n Kartoffelsack würde dir viel eher steh'n." Seine vor Spott schimmernden Augen erfassen ihre dünne Gestalt. Klaras Finger fliegen nicht mehr über das Display. Sie starrt einen uns unbekannten Punkt an. „Sag' mal, schläfst du zufällig bei den Pennern am Bahnhof oder warum riechst du so, als wärst du gerade frisch von einer Müllhalde gekommen?"

Teach me love, good girlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt