Mit schweren Knochen und einer unfassbaren Müdigkeit schleppte Alvar sich durch den Wald, in Richtung des Eschenhaines. Er hatte gehofft, den König des Waldes noch einmal wieder zu sehen, aber nirgends gab es ein Anzeichen, dass er irgendwo hier im Wald herumstreifte. Dank der Abkürzung, die ihm der Elch gezeigt hatte, erreichte er schon nach kurzer Zeit die hohen Mauern und Tore des Heiligtums.
Da er noch etwas früh dran war, beschloss er den Göttern noch ein kleines Brandopfer darzubringen, denn etwas göttliche Unterstützung konnte wirklich nicht schaden. Als er in den kleinen Schrein eintrat, nahm er sich einen kleinen brennenden Holzspan und entzündete damit ein mit Kräutern befülltes Schälchen und stellte es vor das Abbild Odins, der Gott der sein eines Auge an den Riesen Mimir verkauft hatte, um aus seinem Brunnen der Weisheit zu trinken, der Gott, dem seine Raben Hugin und Munin täglich berichteten, was in den Welten vor sich ging. Vielleicht würde er ihn an seiner Weisheit teilhaben lassen, wenn er ihm genug Opfer darbrachte und ihm mental mit tausenden von Gebeten auf die Nerven ging. Nachdem er sich den mehr oder weniger zuverlässigen Beistand gesichert hatte, trat er wieder hinaus in den Hain und wartete.
Gerade, als sich die ersten Sonnenstrahlen zeigten, tauchte Rohan in der Mitte des Haines auf. Wenigstens wusste er jetzt, welchen Eindruck Außenstehende von dieser Art des Reisens hatten. Eigentlich sah es ziemlich unspektakulär aus, abgesehen davon, dass die Person einfach aus dem Nichts auftauchte und ihre Gestalt noch für einige Augenblicke von einem irisierendem Schimmer umgeben war.
Heute hatten die beiden nicht ihre Kampfmontur angelegt, sondern waren in ihre phantomschwarzen Priestergewänder gekleidet, die sich allein durch die Farbe der Stickereien unterschieden. Rohans Stickereien waren in das Malachitgrün seiner Ländereien im Osten gehalten, wohingegen Alvars Gewänder auf den ersten Blick keine Verzierungen aufwiesen. Seine Stellung als oberster Hohepriester machte ihn zu etwas Besonderem und stellte ihn an die Spitze der Stjoren. Wenn er sprach oder sein Urteil verkündete, sprach er für alle zwölf Oberhäupter und seine Worte waren ihre, aber auch er war ihnen unterworfen.
Dies spiegelte sich auch in seinen Stickereien wieder, sie waren nicht Teil des normalen Farbspektrums, sondern waren aus dem stygischen Schwarz der Alben gemacht. Diese hatten die Fäden für sein Gewand aus allen existenten Farben und anderen, für manch einen nichtexistenten, Sachen hergestellt. In den Fäden war unteranderem der Schall des Katzentritts, die Fröhlichkeit der Edelmetalle oder das Lied der Jahreszeiten mit eingearbeitet.
Zusätzlich konnte er zu offiziellen Anlässen noch die einfache Brosche und den schlichten Gürtel seiner Robe durch reichlich verzierte, ebenfalls in stygischem Schwarz gehaltene ersetzen. Da die Leute dann meistens nicht mehr die Augen von ihm losreißen konnten, bevorzugte er die schlichtere Version. Auch aus dem Grund, dass er sich selbst nicht über die restlichen Stjoren erhoben fühlte, sondern glaubte, dass man nur zusammen ein Volk regieren und ihm langfristig Wohlstand bescheren konnte.
"Ich hoffe Rasmus verzeiht es mir, dass ich dich wieder für einen Tag ausborge", sagte Alvar statt einer Begrüßung. Bei der Erwähnung seines Geliebten lächelte Rohan leicht und der müde Schimmer seiner Augen verzog sich. "Wenn das alles hier vorbei ist, müssen wir unbedingt mal wieder zusammen die Berge erkunden. Du arbeitest sowieso viel zu viel." Wenn es nur so einfach wäre, seine Verpflichtungen einfach abzustellen. "Deiner guten Laune nach, folgere ich, dass du den Weg zur Bibliothek kennst."
Der braunhaarige Mann nickte und erklärte: "Wir reisen wieder mit den Ringen, halt dich einfach fest und überlass mir den Rest." Alvar überließ Rohan wie befohlen die Arbeit und sah ihm zu, wie er diesmal fast schon routiniert die Runen für das Portal in den Boden ritzte, als wäre es nicht mehr, als sich ein Glas Wasser einzuschenken. Auch dieses Mal zwang ihn die Energie der Brücke fast in die Knie, aber wenigstens versuchte sie nicht mehr mit ihm zu flirten.
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Stjoren - Grauen im ewigen Eis
FantasyDie Stjoren - die zwölf Hohepriester - lenken und leiten, mit Hilfe der Götter, denen sie ihr Leben gewidmet haben, ihr Volk. Alvar ist einer von ihnen und doch ist er anders. Das Volk verehrt und fürchtet ihn gleichermaßen. Hinter vorgehaltener Han...