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Unsere Koffer ratterten über das Pflaster, während wir uns dem Eingang des Flughafens näherten. Meine Klassenkameraden redeten fröhlich durcheinander, nach einem ganzen Monat voller Museumsbesuche und Wanderungen konnten sie es wohl nicht mehr erwarten, endlich wieder zu Hause zu sein.

Ich hingegen schwieg die ganze Zeit.
Denn auch wenn ich nicht genau wusste wo er war, wollte ich mich nicht von Rio entfernen. Aber in wenigen Stunden würde ich schon wieder zu Hause sein und mein alltägliches Leben weiter leben. Ich würde diese Zeit hinter mir lassen, ich würde Rio hinter mir lassen.
Auch wenn er so oder so tot war, brachte ich es kaum übers Herz gleich in den Flieger zu steigen und Mexiko zu verlassen. Er war wirklich der letzte, der jemandem - abgesehen von den Mördern seines Vaters etwas Böses wollte.

Marlee und Carter waren genau so still wie ich, denn auch sie hatte es hart getroffen was heute Morgen passiert war. Hin und wieder bemerkte ich, wie sie mir mitleidige Blicke zuwarfen. Das machte aber alles nur noch schlimmer, wenn das überhaupt möglich war.

Als Schlusslicht schlurfte ich der Gruppe hinterher, hielt meinen Kopf gesenkt und versuchte mit aller Kraft nicht auf der Stelle los zu heulen.
Ich verstand nicht, warum Rio sterben musste. Warum gerade er, wo er es doch immer so schwer im Leben gehabt hatte. Wo er so hart gekämpft hatte, um eine bessere Zukunft zu haben.
Ignacio dagegen wollte mich vergewaltigen. Klar, dafür hätte er nicht sterben sollen, doch er war definitiv kein guter Mensch gewesen.
Nicht einmal Rios Mörder schien Ignacio wirklich gemocht zu haben. Und trotzdem hatte er ihn umgebracht, einfach weil es die Regeln der Gang so vorgeschrieben haben.
Was war das nur für eine Scheiße!

Immer wieder kam ich zu dem selben Schluss - ich war Schuld an Rios Tod. Das war das Schlimmste daran, ich hätte es verhindern können wenn ich einfach ein bisschen vorsichtiger gewesen wäre.

Ich musste wohl ziemlich bemitleidenswert aussehen, denn als Jack sich umdrehte und mich erblickte, runzelte er seine Stirn, jedoch ohne mich dabei auf irgendeine Weise abfällig anzuschauen. Er wirkte eher verwundert und besorgt.

„Was ist denn mit dir los?", fragte er mich, als er neben mir her lief.

„Warum fragst du.", brummte ich schlecht gelaunt.
Auch wenn es vielleicht nett von ihm war, nach meinem Wohlbefinden zu fragen ohne mich als Schlampe zu beleidigen, hatte ich auf keinen Fall vergessen, was er mir angetan hatte. Ich war Rio doch nur begegnet, weil Jack mich betrogen hatte und Rio war jetzt nur tot, weil wir zu engen Kontakt gehabt haben. Also war doch eigentlich Jack der Auslöser für all das, was passiert war, oder?

„Sorry, ich will doch nur wissen warum du so traurig aussiehst. Und zwar richtig, richtig traurig. So, als ob deine Oma gestorben wäre oder so. Das ist dieses andere Level-"

„Ja ist gut Jack. Ich hab's kapiert. Und nein, ich werde es dir nicht sagen weil es dich einen Scheiß angeht. Seit wann interessiert es dich überhaupt wieder, was mit mir ist?"
Es nervte mich immens, dass er jetzt plötzlich wieder angekrochen kam ohne dabei zu merken, dass er mir damit eher schadete als mir zu helfen.
Noch komischer fand ich es allerdings, dass er sich überhaupt die Mühe machte, mehr oder weniger normal mit mir zu reden. War er auf den Kopf gefallen und hatte deswegen vergessen, dass wir eigentlich auf Kriegsfuß standen?
Anders konnte ich mir seine Meinungsänderung nicht erklären.

„Naja... also da war dieser Typ bei mir. Pablo heißt er, der ist echt korrekt. Auf jeden Fall wusste er, dass ich Drogen nehme. Oder genommen habe. Er hat gemeint, er hat mich gesehen wie ich mir Koks geholt habe. Ist ja auch egal, er hat mir auf jeden Fall den Kopf zurecht gerückt was das angeht. Bin jetzt schon seit zwei Tagen clean, krass oder?"
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er stolz grinste. Auch, wenn ich ihn immer noch nicht mochte, war ich glücklich darüber, dass Pablo ihm ausreichend ins Gewissen geredet hatte.

Before DawnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt