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Was ist Mut?

Diese Frage sollten wir uns im Zusammenhang einer Projektarbeit stellen. Wir sollen mutig sein. Wir sollten etwas wagen.

Wie sollte ich mutig sein, wenn ich mich seit Jahren hinter einer Fassade versteckte? Wenn ich nicht einmal zu mir selbst stehen konnte? Aus Angst und Scham davor, was meine Mitmenschen denken würden.

Ich bin nicht mutig. War es noch nie.

Sprangen meine Klassenkameraden vom Drei-Meter-Brett, sass ich lieber am Beckenrand und schaute ihnen zu. Wurden Klingelstreiche auf dem Nachhauseweg gemacht, hielt ich mich in sicherer Entfernung auf und ging stur weiter. Wurde wegen einer Mutprobe im Supermarkt gestohlen, beobachtete ich nur.

Noch nie gehörte ich zu den Mutigen. Dabei stand mein Name doch genau dafür. Andrea, die Mutige. Aber nein, ich war eher das Gegenteil. Andrea, die Ängstliche.

Ganz anders meine Freundin. Sie machte ihrem Namen alle Ehre. Louise, die berühmte Kämpferin. Beliebt in der Schule, engagierte sie sich aktiv in der Schülervertretung. Sie nutzte ihren Status, um sich für alle einzusetzen und verschaffte sich somit Respekt.

Wir waren Freundinnen, seit ich denken konnte. Und trotz unserer Unterschiede unzertrennlich. Sie war offen, ehrlich und immer für ein Gespräch zu haben. Ich war verschwiegen und zurückhaltend, hielt mich lieber im Hintergrund. Extrovertiert und introvertiert. Abenteuerlustig und risikoscheu.

Seit je her versuchte sie immer wieder, mich aus der Reserve, meinem sicheren Kokon, zu locken. Etwas, was ihr allerdings nie wirklich gelingen wollte. Aufgeben wollte sie allerdings nicht. Und so sah sie dieses Projekt nun als die Gelegenheit an. Hier war sie, ihre perfekte Chance um alles aus mir herauszuholen. Und ich konnte nichts dagegen tun.

Louise und ich hatten uns für heute verabredet, wollten gemeinsam an unserer Projektarbeit weitermachen. Und so war ich auf dem Weg zu ihr. Kopfhörer in den Ohren und den Klängen von Sara Bareilles Brave lauschend. Ich mochte das Lied, konnte mich in den Text hineinversetzten.

Schneller als gewollt stand ich vor Louises Haustüre und klingelte. Kurz darauf wurde die Türe aufgerissen und ich wurde in eine feste Umarmung gezogen. Ich hatte das Gefühl, als würde ich zerquetscht werden. Ja, das war sie. Louise, meine beste Freundin.

"Komm doch rein. Wir sind noch alleine", sagte sie, sobald sie ihre Arme von mir gelöst hatte. Ich tat wie mir geheissen, trat ein und streifte mir wie immer die Schuhe von den Füssen. Louise war bereits vor und ins Esszimmer gegangen, wohin ich ihr folgte. Sie sass dort, Unterlagen vor sich ausgebreitet und das Ende ihres Stiftes zwischen den Lippen.

Im Türrahmen stehend betrachtete ich sie. Schlanke Statur, lange braune Haare, zusammengekniffene, strahlend blaue Augen. Sie war hübsch, ohne jeden Zweifel. Und dazu kam noch eine wundervolle Persönlichkeit. Wie konnte ich mich da nicht in sie verlieben?

"Hey Andy. Kommst du mir noch helfen oder bleibst du dort stehen?", riss mich Louise aus meiner Starre und sah mir grinsend entgegen.

Beschämt sah ich kurz zu Boden, ehe ich mich zu ihr an den Tisch setzte. Noch immer hatte ich den Liedtext von vorhin im Ohr.

Say what you wanna say
And let the words fall out
Honestly I wanna see you be brave

Wie gerne würde ich es ihr einfach sagen? Gerade heraus, direkt. Doch ich konnte nicht. Zu gross war die Angst davor, abgewiesen und verspottet zu werden. Dabei wollte ich doch nichts weiter, als ihr meine Liebe zu gestehen. Ich wollte, dass diese ständige innere Anspannung endlich von mir abfiel. Und trotzdem tat ich es nicht. Meine Lippen blieben wie immer versiegelt.

A Story Of CourageWo Geschichten leben. Entdecke jetzt