Zu Beginn war sie eine der Guten. Sie glaubte an Barmherzigkeit. Gerechtigkeit. Bis ihr beides genommen wurde.
Auszug aus den Talus-Chroniken
Magie wird in Dunkelheit geboren.
Zumindest war es das, was Erin glaubte. Damit kam sie der Wahrheit einerseits sehr nah, war aber gleichzeitig unendlich weit davon entfernt. Magie wurde nicht in der Dunkelheit geboren. Dunkelheit entstand durch Magie.
Wenn sie das gewusst hätte, hätte sie vielleicht einen anderen Weg gewählt. Möglicherweise wäre dann alles anders gekommen. Aber als Erin mit kribbelnden Fingerspitzen über die vergriffenen Buchrücken fuhr, ahnte sie nicht, was die Magie für sie im Sinn hatte.
Das kleine Antiquariat, in das sie vor einem plötzlichen Regenschauer geflohen war, roch nach Druckerschwärze, Holz und altem Leder, was eine willkommene Abwechslung zum penetranten Gestank des Desinfektionsmittels in den Krankenhausfluren war. Hunderte Bücher standen scheinbar ohne System und nicht gerade ordentlich in den unzähligen Regalen, und selbst auf dem alten Holzboden, der schon bessere Zeiten gesehen hatte, stapelten sich Romane, Sachbücher und uralte Atlanten.
Die Besitzerin, die hinter einer schmalen und bücherüberhäuften Ladentheke stand, trug ihre grauen Haare in einem strengen Dutt und eine Lesebrille mit Tigermuster. Ihr schmaler Körper war in eine gelbe Strickjacke gehüllt, die Erin an die Sonnenblumen erinnerten, die sie Tante Charly letzte Woche als Abschiedsgeschenk ins Krankenhaus gebracht hatte.
„Pass auf dich auf", hatte Charly gesagt, und ihr mit erschreckend kalter Hand über die Wange gestrichen. Ihre einstmals strahlendblauen Augen waren dumpf und leblos.
Erin hatte genickt und gelächelt, und war in Tränen ausgebrochen, sobald sie alleine im Flur stand. Seitdem verfolgten sie die Erinnerungen an Desinfektionsmittel, quietschendes Linoleum und gelbe Sonnenblumen. Jeden Tag, den sie in der Stadt ihrer Träume verbrachte, wurden die Schuldgefühle schlimmer. Sie wünschte, sie wäre zu Hause geblieben, aber Tante Charly hatte es nicht zugelassen. „Viel Erfolg beim Studium in der großen Stadt. Du schaffst das."
Die Ladenbesitzerin hatte Erin einmal ausgiebig von oben bis unten gemustert. Nun zog sie sich wortlos hinter einem nach kaltem Räucherwerk riechenden Vorhang zurück. Offensichtlich hatte sie Erin als ehrlich genug eingestuft, um sie unbeaufsichtigt stöbern zu lassen.
Erin senkte den Blick. Sie mochte es nicht, aufgrund ihres Äußeren unterschätzt zu werden. Weder die zerrissene Jeans noch das dunkle Top oder die schwarze Lederjacke vermochten es, ihr unscheinbares Auftreten zu ändern. Sie war ein „nettes Mädchen", wie Tante Charly mit Stolz zu sagen pflegte, verhielt sich stets zuvorkommend und scheute Konflikte. Die dunkelbraunen Haare, die hellen Augen und die zaghaften Sommersprossen, ließen Erin zusammen mit ihrem runden Gesicht und dem höflichen Lächeln deutlich jünger wirken, als sie eigentlich war.
Trotz ihrer 24 Jahre musste sie noch immer den Ausweis vorzeigen, wenn sie sich im Pub einen Whisky bestellte. Wahrscheinlich würde ihr noch nicht einmal ein Gesichtstattoo ein Respekt einflößendes Aussehen verleihen - nicht, dass Erin jemals auch nur mit dem Gedanken gespielt hätte, sich etwas ins Gesicht tätowieren zu lassen. Zumindest nicht ernsthaft. Sie strich über ihren Jackenärmel, unter dem sich auf der Innenseite ihres Unterarms ein verschnörkelter Schriftzug verbarg. Magic.
Sie wagte sich tiefer in das Antiquariat vor und achtete darauf, mit ihrer nassen Kleidung keine Wassertropfen auf den Büchern zu hinterlassen. Ihr Pferdeschwanz klebte ihr kalt im Nacken, und sie widerstand dem Drang, ihn auszuwringen. Auch, wenn ein Teil von ihr gerne das schockierte Gesicht der Besitzerin gesehen hätte.
Ihre Finger weiter über die Buchrücken, fühlten jeden der Risse, die dem Leder bei ungezählten Besitzer- und Ortswechseln unabsichtlich zugefügt worden waren. Sie strich über fast verblichene Goldfarbreste, die Buchtitel und Autorennamen hervorheben sollten, und über kunstvolle Ornamente, die noch immer kräftig rot, blau und grün leuchteten.
Erin wusste nicht genau, wonach sie suchte. Wie so oft hatte sie auf ihr Bauchgefühl gehört, als die Eingangstür mit ihrer abgeblätterten roten Farbe und dem dunkelgrünen Schild darüber in ihr Blickfeld geraten war. Dieses Gefühl, über das ihre Mutter so oft leicht abfällig gescherzt hatte, wenn Erin es erwähnte. Tante Charly war stets auf Erins Seite gewesen, hatte ihr Bücher und Kristallketten geschenkt und sie ermutigt, nach Geheimnissen zu suchen. „Ohne Träume gibt es keine Hoffnung," war einer ihrer Lieblingssätze.
Zuletzt hatte Tante Charly ihr diesen Satz kurz vor ihrem elften Geburtstag ins Ohr geflüstert, als Erin sich sicher gewesen war, dass sich in ihrem Kleiderschrank der Eingang zu Narnia befand. Ihre Mutter hatte nur gelacht, als sie es ihr aufgeregt erzählt hatte. Bis heute hatte Erin sich nicht durch Pelzmäntel in eine andere Welt gekämpft, und dennoch war die Hoffnung auf mehr in ihrem Herzen nicht auszulöschen. Sie war sich sicher, dass etwas auf sie wartete. Ein Abenteuer. Magie. Irgendetwas Großes.
Wenn jemand sie fragen würde, würde sie niemals sagen, dass sie lediglich die Flucht vor dem Regen in das Antiquariat geführt hatte. Für Erin war der Regen ein Zeichen dafür, dass sie genau jetzt in diesem Laden sein sollte. So begannen doch gute Geschichten, oder? Ein regennasses Mädchen mit Fantasie und Angst im Herzen, das in einem nach Büchern und Tinte riechenden Antiquariat stand und sich hilflos umsah. Das waren die Zutaten, die eine große Abenteuergeschichte brauchte. Erin hatte viele von ihnen gelesen.
Ein lautes Rumpeln, gefolgt von einem Fluch, ertönte. Offenbar war der Besitzerin etwas heruntergefallen. Erin ignorierte es, ihr Blick war weiterhin fest auf die Buchrücken gerichtet. Vielleicht würde sie endlich finden, wonach sie suchte. Eine Möglichkeit, Tante Charly von diesem bösartigen Tumor zu befreien, der ihr das Leben und die Hoffnung aus den Adern saugte.
Je weiter Erin ging, desto intensiver roch es nach Papier und Druckerschwärze, als hätte sich der Geruch im hinteren Teil des länglichen Ladens gesammelt. Vermutlich lag es daran, dass die Luft an diesem Ort schon seit Jahren stillstand. Unwillkürlich fragte Erin sich, wann hier zuletzt ein Kunde vorbeigekommen war. Sie mochte den Gedanken, Orte zu entdecken, die schon lange einsam waren. Als warteten die Gegenstände darauf, Erin ihre Geschichte zu offenbaren, die sie eine Ewigkeit für sich behalten hatten müssen, weil ihnen niemand Gehör schenkte. Aber egal, wie stark sie sich auf das alte Holzregal mit den durchgebogenen Brettern vor ihr konzentrierte, es blieb stumm.
Es schepperte erneut, und Erin zuckte zusammen. Dabei fielen ein paar Regentropfen von ihrer Jacke auf das oberste Buch eines Stapels, der neben ihr auf dem Boden stand. Die glänzende Flüssigkeit auf dem dunkelgrünen Einband bereitete ihr Unbehagen. Schuldgefühle.
Erin ist so ein nettes Mädchen.
Die liebevolle Stimme ihrer Tante im Ohr, hob Erin das Buch hoch, um es abzutrocknen. Da sie komplett nass war, öffnete sie den Reißverschluss ihrer Lederjacke, aber selbst das dunkle Top war leicht feucht. Schließlich wischte sie die Tropfen notdürftig mit ihrer Hand ab. Ihr Blick fiel auf den schwarzgeprägten Titel. Narnia.
Das Buch hatte sie bereits unzählige Male gelesen. Es war das erste gewesen, das Tante Charly ihr geschenkt hatte. Sie legte es zurück auf den Bücherstapel. Enttäuschung breitete sich in ihr aus. Mit schnellen Schritten ging die engen Gänge zurück in den vorderen Teil des Ladens.
Das Prasseln des Regens war verstummt. Vor dem Fenster hingen graue Wolken tief über der Stadt, die ersten Passanten wagten sich wieder ohne Regenschirm auf die Straße. Erin sah zur Ladentheke, doch von der Besitzerin war nichts zu sehen. Sie rief ein „Danke" Richtung Vorhang, dann vergrub sie ihre Hände in den Taschen ihrer Lederjacke und trat durch die Tür, ohne das kleine braune Buch zu bemerken, das ihr Schlüssel in eine andere Welt gewesen wäre.
Die Magie hatte beschlossen, dass Erin nicht bereit für sie war. Noch nicht.
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Talus - Die Hexen von Edinburgh
FantasyManchmal findet uns unsere Bestimmung erst, wenn wir nicht mehr nach ihr suchen. Erin arbeitet als Guide in Edinburgh. Sie führt Touristen in den Tunneln unter der Stadt herum, um sie dort mit Geistergeschichten zu unterhalten, aber natürlich glaubt...