Teil 20 - Hartnäckig

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Am nächsten Morgen wurde sie küssend von Hisoka geweckt. Zu YNs Enttäuschung lag er nicht mehr neben ihr, sondern stand außerhalb des Bettes und hatte sich über sie gebeugt. "Aufstehen, Sonnenschein, das Frühstück ist fertig", hauchte er ihr ins Ohr.

Noch schlaftrunken und ein wenig orientierungslos stieg sie aus dem Bett. Nachdem sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, konnte sie Hisoka begutachten. Er hatte das gleiche an wie während des Kampfes am Vortag, nur dass seine Kleidung keine Risse aufwies; die pinken Haare waren gegen die Schwerkraft gestylt und die bekannten Symbole zierten sein Gesicht.

Ist das sein Arbeitsoutfit? Also ist es eine Kampfmission, zu der er aufbricht.

YN taumelte hinter ihrem Gastgeber her und setzte sich an den Tisch. Hisoka eilte herbei, schenkte ihr Kaffee ein und stellte sich an den Herd.
"Ich habe dir schon Milch in deinen Kaffee gegossen", erwähnte er nebenbei, während er konzentriert Speck und Rührei aus der Pfanne auf zwei Teller gleiten ließ.

Ich habe mich geirrt. Hinterm Herd macht er sich ganz gut. Vielleicht ist er doch ein Hausmann, aber ich denke, dass er Hilfe bekommen hat.

Grinsend schossen YN unwillkürlich Bilder von einer glücklichen Familie in den Kopf - Mann und Frau mit Kindern.
Sie sah hinter sich, als ob da jemand stünde, der sie bei ihren Gedanken ertappt haben könnte.

Das ist doch jetzt übertrieben. Bin ich die einzige, die sich bei attraktiven Kerlen gleich die gemeinsame Zukunft ausmalt?! Einfach nur peinlich.

Sie lachte, und zwar laut. "Was ist so lustig?", fragte Hisoka und stimmte in das Lachen ein, "ich habe Agatha um Hilfe geben. Ich gebe zu, dass ich sowas noch nie gemacht habe." Dankbar, dass er ihr ein Schlupfloch geschaffen hatte, nickte sie zustimmend. Er kratzte sich am Hinterkopf und kam mit den beiden Tellern zum Tisch.

"Es ist also entschieden. Du bleibst hier, bis ich zurück kehre."

Da sie bereits dabei war, das Frühstück zu verschlingen, konnte sie nicht sofort antworten und wenn sie darüber nachdachte, gab es Schlimmeres als in einer schönen geräumigen Penthousewohnung auf einen attraktiven Mann zu warten.
"Nach der Arbeit fahre ich aber noch einmal zu mir, um mir frische Sachen zu holen, bevor ich herkomme", sie grinste frech, "Deal?"

"Deal", stimmte er zu und nahm ihre Hand. YN errötete und instinktiv zuckte sie bei seiner Berührung. Sie konnte es nicht verhindern, denn es war ihre Standardreaktion bei körperlicher Nähe, doch sie schüttelte den Kopf und legte ihre andere Hand auf seine.
Fragend musterte Hisoka sein Gegenüber.

"Es ist nichts, ich muss mich nur daran gewöhnen, dass ich nicht mehr allein bin und dass ich nicht bei jeder menschlichen Berührung irritiert sein muss." Sie lächelte ihn breit an.

Nach dem Frühstück war es an der Zeit aufzubrechen: für Hisoka zu seiner geheimnisvollen Mission und für YN zur Universitätsbibliothek.

Eine lange Arbeitswoche lag vor ihr und die Tatsache, dass sie nicht wusste, wann er wieder zurück kommen würde, machte sie unruhig. Am liebsten wollte sie mit ihm Zeit verbringen und ausnahmsweise hatte sie keine Motivation, sich den Büchern zu widmen. Sie war die ganze Zeit abgelenkt, dachte an Hisoka und so zogen sich die Stunden auf unerträgliche Art und Weise. Man hätte den Eindruck bekommen können, die Zeit spielte absichtlich gegen sie.

YN war gerade im Pausenraum, als die Tür sich öffnete und ihr Kollege Kaito eintrat. Sie verschluckte sich an ihrem Wasser.

"Hallo YN, schön dich zu sehen. Wie war dein Wochenende?", fragte er unverblümt.

Wundervoll!

"Ach ganz okay, nichts Besonderes." Sie musste sich Mühe geben, um es glaubwürdig klingen zu lassen. Übertrieben genau schraubte sie den Deckel wieder auf die Wasserflasche und unterdrückte ihr Lächeln, denn das würde nicht zu ihrer Antwort passen. Tatsächlich war sie nicht in der Stimmung mit ihm zu reden, also musste sie schnellstmöglich diese Unterhaltung beenden.
Doch so einfach war Kaito nicht abzuspeisen. Er hörte nicht auf, sie mit seinen Erlebnissen zu bombardieren und ihr weitere Fragen zu den vergangenen zwei Tagen zu stellen. Als er erwähnte, dass er sich gestern in der Himmelsarena einen Kampf angesehen hatte, wurde YN hellhörig.
Sie ging auf seine Aussage ein, nicht weil es sie interessierte, dass Kaito und sie unabhängig voneinander den gleichen Kampf gesehen hatten, sondern mehr, weil sie ihn nicht gefühlskalt behandeln wollte, das schlechte Gewissen plagte sie nun doch. Das wäre auch ihm gegenüber nicht fair, schließlich konnte er nichts dafür, dass sie gerade lieber alleine mit ihren Gedanken wäre.

"Da war ich auch, ziemlich heftiger Kampf", kommentierte sie monoton. Augenblicklich bereute sie ihre Aussage wieder, denn Kaito war sofort Feuer und Flamme und in seinen Augen leuchtete ein Funkeln. "Ich habe dich gar nicht gesehen, ich wusste nicht, dass du sowas gut findest! Dann können wir nächstes Mal zusammen hingehen."

"Oh, so gut fand ich es gar nicht. Ich war da", sie zögerte, "weil ich eingeladen wurde." YN hatte wirklich kein Interesse daran, mit ihm über Hisoka und sich zu reden und versuchte deshalb, eine möglichst neutrale Antwort zu geben.
Ihre Aussage strafte Kaito mit nicht enden wollenden, begeisterten Ausschweifungen über den Kampf und die Frage, wo sie im Publikum gesessen hatte.

Da sie ihn nicht anlügen konnte und wollte, gestand sie, dass sie von einer der Logen aus das Geschehen verfolgt hatte. "In welcher Loge warst du denn?" Sichtlich ungläubig verzog er seine Stirn, er ließ nicht locker. "Ich selbst war auch in einer. Ryu Kantaro ist ein Freund von mir und deshalb war ich mit ein paar Kumpels in seiner Privatloge. Er wurde ordentlich vermöbelt von diesem Hisoka."
Den letzten Satz hatte YN gar nicht mehr mitbekommen, unzählige Gedanken schossen ihr durch den Kopf.

Wie? Kaito ist ein Freund von Ryu Kantaro? Also ist er einer von 'seinen Jungs'? Ist Kaito keiner von den Guten? Also habe ich ihn falsch eingeschätzt. Wenn er wirklich zu dieser Clique gehört, die sich einfach nur grausam anderen gegenüber verhält... Und die Sache mit der Perle...

Ihr wurde übel. Sie wollte Kaito auf Abstand bringen. Sofort. Die Erkenntnis, dass sie sich in ihm getäuscht hatte, machte sie wütend. Aber ihre Wut war gegen sich selbst gerichtet, denn sie hatte sich in einem Menschen getäuscht, von dem sie angenommen hatte, dass er ein guter Freund werden könnte.

Eine kalte und abweisende Stimmung breitete sich in YN aus, sie wimmelte ihren Kollegen ab und ging zurück an ihren Arbeitsplatz. Sie sollte sich heute noch um Rechnungen kümmern und der Zeitpunkt war ideal, um sich alleine in einem Büro zu verbarrikadieren.

Als sie sich nach ungefähr einer halben Stunde nicht mehr auf ihre Aufgabe konzentrieren konnte, weil sie einfach zu viel beschäftigte, verließ sie das Büro und ging in einen der Lesesäle, um herumliegende Bücher wegzuräumen.
Während sie sich bemühte, beschäftigt auszusehen, damit sie nicht angesprochen wurde, dachte sie erneut an die Clique um Ryu und dass Kaito ein Mitglied war.

Aber nur weil er mit ihnen befreundet ist, macht ihn das doch nicht genauso grausam. Er war doch nett zu mir.

"YN, ich brauche deine Hilfe." Es war Kaito, der sie in die Realität zurückholte, er kam schnellen Schrittes in den Lesesaal gestürmt. "Du musst mir die Pläne des Konzerthauses von Yorknew City besorgen, einer der Professoren fragt danach und ich kann sie nicht finden."

YN erhob sich aus der Hocke. Sie wusste, dass die Pläne der älteren Gebäude im Archiv der Universitätsbibliothek lagen, um die empfindlichen Zeichnungen nicht weiter zu beschädigen und sie vor Sonnenlicht zu schützen. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg in das Kellergeschoss der Bibliothek. Unter der Erde war die Luft normalerweise immer modrig und feucht, doch die Katakomben der Universität verfügten über ein Abluftsystem, um die Schätze der Bibliothek aufbewahren und konservieren zu können. Kalt war es trotzdem und das war gerade im Sommer sehr angenehm. YN schloss das Tor auf und sie betrat mit Kaito einen der vielen Räume. Die Bauzeichnungen der gegenwärtigen Bauten von Yorknew City wurden alle hier gesammelt und Kaitos Begeisterung war ihm anzusehen.

Er hat ja mal erwähnt, dass ihn Architektur interessiert.

Augenblicklich ging er zu den Dokumenten und begann, sie zu durchforsten. Hätte der Bibliotheksleiter das gesehen, hätte Kaito eine Standpauke erhalten, er mochte es nicht, wenn man ohne Hemmungen die Pläne und Karten durchschaute. Aber YN ließ in gewähren, schließlich hatte ein Professor nach irgendwelchen Plänen verlangt und Kaito wusste anscheinend, wonach er suchen musste.

Als er fündig geworden war, klemmte er sich mehrere lange Rollen unter den Arm. Kaito hatte ein selbstbewusstes Grinsen aufgesetzt und berührte mit seiner freien Hand YNs Arm. "Du schuldest mir noch etwas. Freizeitpark - klingelt da was?"

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