1. Sei willkommen

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"So, Regina. Hier ist es." Kommissar Olsen hielt vor einem Haus, das aus roten Backsteinziegeln bestand. Viel mehr konnte ich nicht sehen, denn es regnete in Strömen. Das Licht einer roten Ampel spiegelte sich in Pfützen und Glasscheiben, dann schaltete sie auf grün um. Der Verkehr neben uns begann sich in Bewegung zu setzen. Wir blieben stehen. Es fühlte sich seltsam an, dass die Welt sich weiterbewegte, so ohne uns.

"Das ist dein neues Zuhause." Olsen schien außerordentlich zufrieden darüber, mich hierher gefahren zu haben. "Hier wird es dir gefallen."

"Sind nicht gerade einladend aus", murmelte ich und starrte nach draußen in den Regen. Jemand mit schwarzem Schirm ging an uns vorüber, ein kleiner Hund tappelte neben der Person durch Pfützen, auf denen sich das bunte Licht eines Schaufensters spiegelte.

"Das liegt nur am scheußlichen Wetter." Der Kommissar drehte sich zu mir nach hinten um und nickte mir zuversichtlich zu. "Eigentlich ist das echt ein schönes Viertel." Seine gute Laune kam mir widerlich vor.

Neben ihm auf dem Beifahrerplatz saß die Betreuerin vom Jugendamt, die jetzt ebenfalls zu mir umsah und dabei ihre eckige Brille zurechtrückte. "Bist du bereit?" Sie lächelte genauso aufgesetzt wie Olsen. "Dein Vater wartet sicherlich schon auf dich."

"Hm. Bringen wir es hinter uns." Ich öffnete die Autotür. Ein Fahrradfahrer wich in letzter Sekunde aus und fluchte etwas, während er schon über die nahe Kreuzung düste. Kalte, große Regentropfen fielen mir entgegen. Innerhalb weniger Sekunden war meine schwarze Hose durchnässt, dann auch mein Sweatshirtpullover.

"Hier entlang."

Ich folgte den beiden Erwachsenen hinüber zu einem Hauseingang. Die Tür war aus dunklem Holz, das eindeutig schon mehrere Jahre auf dem Buckel hatte. Olsen musste sich mit seinem Körpergewicht dagegenstemmen, um sie aufzubekommeen.

Der Flur und das Treppenhaus lagen im Dunkeln und auf den Fliesen hatte sich eine Pfütze gebildet. Ein nasser Kinderwagen stand daneben, der Regenschutz noch darüber. Olsen schritt daran vorbei, die Stufen hinauf. Das Holz knarrte unter seinem Gewicht. Wir folgten ihm hinauf. Meine schwere Umhängetasche drückte in meine Schulter, aber mehr störten mich die durchnässten Klamotten, die an mir klebten.

Im ersten Stock gab es ein Fenster, bei dem ein kleiner Kaktus stand. Der knallgelbe Topf stach zwischen all den dunklen Brauntönen des Treppenhauses heraus. Die Scheibe war völlig verschmutzt und man erkannte kaum etwas außer Regen und ein grauer Hinterhof, und noch mehr Backsteinziegel.

"So. Da wären wir." Kommissar Olsen nickte mir mit breitem Grinsen zu, dann drückte er auf die Klingel neben der Wohnungstür. Auf dem Namensschild stand "Graf".

Mein neuer Nachname. Ich hatte ihn schon fast wieder vergessen. Regina Graf. So heiße ich jetzt.

Dann erklangen hinter der Tür Schritte. Schlürfend, aber hastig. Es klang nach meinem Vater, und dann stand er auch schon vor mir. Er trug ein weißes Hemd, das war seltsam, und in seinen Haaren glitzerten Wassertropfen, als hätte er tatsächlich geduscht. Sogar rasiert war er. Nur blass war er, wie immer, und seine Augen tiefschwarz und leer.

"Hallo", flüsterte er.

"Hi." Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Es war nicht so, dass ich mich sehr auf das Wiedersehen gefreut habe. Oder dass ich generell gerne an diesem Ort war. Aber es war dennoch mein Vater, der vor mir stand, und irgendwie machte es mich nervös.

"Kommt herein." Er trat zur Seite und ein winziges Lächeln umspielte seine Lippen, als er noch leise hinzufügte: "Willkommen."

Ich antwortete nicht darauf, sondern betrat die Wohnung. Wie bereits das Treppenhaus überwogen dunkle Holztöne die Einrichtung. Ich legte meine Tasche neben eine Komode, auf der alte Zeitungen, ein paar Münzen und ein Schlüsselbund lagen. Es waren fast die einzigen Anzeichen dafür, dass hier jemand wohnte. Die Wände waren leer, am Ende des Flurs stand ein Staubsauger und direkt rechts von mir lag ein Zimmer, in dem sich nicht mehr befand als eine große Matratze mitten auf dem Boden.

"Das wird dein Zimmer", verkündete mein Vater. Er hat wohl meinen Blick bemerkt. "Wir müssen es nur noch ein bisschen herrichten. Aber ich dachte, du möchtest lieber selbst alles entscheiden."

Darauf schwieg ich. Zum einen, weil er recht hatte: ich wollte das selbst entscheiden. Aber zumindest ein Kopfkissen und eine Decke hätte ich schon recht gerne gehabt, so für den Anfang. Schließlich war es schon spät. Womit sollte ich heute schlafen? Mein Vater durchdachte solche Sachen nie. Es kann sein, dass er es lieb meinte, aber was half mir das?

Wir schlüpften aus unseren nassen Schuhen und gingen den Flur weiter, hinein in einen Raum, der wohl Ess- und Wohnzimmer zugleich war. Auch hier war es spärlich eingeräumt und in einer Ecke türmten sich Pizzakartons. Auf der anderen Seite lagen Ziegelsteine herum, genauso rot wie die äußere Fassade des Gebäudes. Irgendwie waren sie fehl am Platz. Daneben war ein Sofa, das andere wahrscheinlich schon zum Sperrmüll gebracht hätten, und direkt davor ein wackeliger Tisch mit zwei Stühlen. "Nehmt Platz."

Widerwillig setzte ich mich auf das Sofa. Dann begannen die Erwachsenen, das Bürokratische zu klären. Ich hörte nur halbherzig mit. Mein neuer Name fiel im Gespräch, meine neuen Daten. Sie hatten meinen Geburtstag um eine Woche nach hinten verschoben. Sie erzählten mir zum fünften Mal, was ich den Leuten erzählen sollte, wenn sie mich nach meiner Vergangenheit fragten. Ich kam jetzt aus einem Dorf in Baden-Würtenberg, wo ich vorher noch nie war, und wechselte den Wohnort, weil mein Vater einen guten Job als ITler angeboten bekommen hatte. Ich hatte nie Geschwister. Meine Mutter war vor fünf Jahren an den Folgen eines Autounfalls gestorben. Es klang bizarr und war voller Lügen.

Die Betreuerin vom Jugendamt stupste mich an, damit ich zuhörte. Sie rückte ihre Brille zurecht und lächelte fröhlich. "Willkommen in deinem neuen Leben, Regina. Das wird gut werden, ganz bestimmt."

REGINAWo Geschichten leben. Entdecke jetzt