Perspektivwechsel

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Sie hatten viele Namen. Als Ratten der Lüfte wurden sie von den Menschen beschimpft aber als Friedensbringer verehrt. Von den Katzen mochten sie wohl als das nächste Mittagessen bezeichnet werden und die Statuen der Stadt hatten sicherlich keine schönen Worte für sie übrig.

Sie selbst jedoch gaben sich keinen Namen. Sie wussten wer sie waren. Wer zu ihnen gehörte und wer nicht. Sie waren die Herrscher der Städte, die Künstler der Lüfte. Keinen Feind hatten sie zu fürchten. Keiner von ihnen war eine echte Bedrohung für die Existenz ihrer Art. Nicht Mal die Menschen, von denen die anderen Tiere des Untergrundes, die Waschbären, die Katzen, die Ratten und noch viele andere nur mit Schrecken sprachen.

Ihre Masse verlieh ihnen Macht. Doch sie raubte ihnen ihre Individualität. In einer Masse aus so vielen machte sich keiner die Mühe Namen zu lernen. Sie interessierten niemanden. Irgendwann hörten die Mütter auf ihren Kindern welche zu geben, sie würden sie sowieso wieder vergessen. Denn auch für die Eltern waren ihre Kinder nur welche von Vielen.

Für den seltenen Fall, dass sie doch als Individuen wahrgenommen wurden, wurden ihnen provisorische Namen zugerufen. Sie beschränkten sich auf äußere Attribute, die jeder sofort sehen konnte.

„Einbein", „Weißfeder", oder „Hinkekralle" waren nur wenige der Namen, die manchen von ihnen dauerhaft gegeben wurden. Man könnte sie tatsächlich als echte Namen bezeichnen.

Die weniger Glücklichen unter ihnen waren die Namenlosen. An ihnen war nichts anders. Sie besaßen dieselbe Federzeichnung, dieselben Merkmale wie alle anderen. Sie konnten sich durch nichts abheben.

Einer von ihnen war die Taube, die gerne mit hunderten andern im Glockenturm schlief und es sich angewöhnt hatte, den Dreck und den Gestank zu ignorieren, im Schlaf mehrmals von irgendwem angestoßen zu werden und seinen Schlafplatz kurz vor dem Glockenschlag zu verlassen.

Die Luft spielte um seine Federn, als er zum Landeanflug ansetze. Der Asphalt war durch die Sonne aufgeheizt und er zuckte kurz zusammen, gewöhnte sich jedoch wieder recht schnell daran.

Er stand auf einem riesigen, vollbesetzen Parkplatz am Rande eines sehr beliebten Gebäudes. Die Menschen gingen hier in Scharen ein und aus, wie die Motten vom Licht des großen grell-gelben Schildes angezogen. Sie schienen hier ihr Futter zubekommen, denn der Boden war immer gespickt mit den größten Köstlichkeiten.

Natürlich war er nicht allein. Wo Futter war, da waren auch die Ratten der Lüfte nicht weit.

Sein Magenknurren hatte ihn hierhergeführt, wohlwissend wie begehrt dieser Ort immer war.

Er ging ein paar Schritte und sah sich um. Bald schon fiel sein Blick auf ein weggeworfenes Stück Brot. Es hatte sogar noch ein paar Sesamkörner an ihm kleben. Freudig lief er darauf zu als ein anderer ihm den Weg versperrte.

„Hey! DU! Namenlos!" schrie ihm eine fette Taube entgegen, die sich bestimmt lange nicht mehr in die Luft erhoben hatte. Sie plusterte ihr Gefieder auf und hüpfte ihm drohend entgegen. „Verzieh dich! Das ist mein Futter!"

Namenlos duckte sich weg und trat den Rückzug an. Niemals würde er sich auf einen Kampf einlassen. Zu viele seiner Art hatte er mit verstümmelten Gliedmaßen gesehen, die humpelnd durch die Straßen gingen und sich von den Menschen bemitleiden ließen. Wobei ihm manchmal der Verdacht kam, dass sich die Hinkekrallen und Einbeins ihre Verletzungen nicht durch tapfere Kämpfe, sondern durch Begegnungen mit Autos oder Zügen zugezogen hatten.

Namenlos erhob sich in die Lüfte und machte sich auf den Weg zu einem anderen Platz, an dem zu dieser Uhrzeit auch gerne das ein oder andere Stück auf den Boden fiel.

Ratten der LüfteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt