2. Sei die Neue

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Als die Weckerapp meines Handys klingelte, lag ich bereits hellwach auf der Matratze. Vielleicht war es der ungewohnte Verkehrslärm oder der viel zu warme Schlafsack, die mich um den Schlaf geraubt hatten, oder es war, weil ich heute die Schule besuchen sollte. Das erste Mal seit über zwei Jahren. Ich würde die Neue sein, die alle anstarren, wie in den Geschichten, die ich manchmal las. Darin warfen die Protagonisten ihre Wecker gegen Wände, während ich nur eine leichte Wischbewegung machte und mich müde zurückfallen ließ.

An der Decke über mir waren Flecken, so als ob dort einmal Sterne geklebt hatten, die im Dunkeln leuchten. Von den beiden Fenstern schien gräuliches Licht herein. Es würde ein ebenso verregneter Tag werden wie gestern.

Ich schälte mich aus dem Schlafsack, den mein Vater irgendwoher aufgekratzt hat. Er hatte sich mehrfach entschuldigt und mich dann an seinen Rechner gesetzt. Dort hatte er mir Kreditkarte gegeben, die uns die Polizei übergeben hatte. Ich sollte mir alles kaufen, worauf ich Lust hatte und was ich für mein Zimmer brauchte. "Der Staat zahlt", erklärte er freudig, was ich ihm nicht glauben wollte. Vielleicht bekamen wir ein gewisses Budget gestellt, aber mit seiner Taktik würden wir uns schon sehr bald nichts mehr zu Essen kaufen können.

Mir war schon vorher klar, dass ich zwischen uns beiden die erwachsenerere war, aber so extrem hatte ich es nicht in Erinnerung gehabt. Mein Vater war wie ein Teenager, dessen Eltern verreist waren. Er ernährte sich von Tiefkühlpizza, saß in jeder freien Minute vor dem Rechner und achtete nicht so sehr auf Körperpflege wie er eigentlich sollte.  

Gestern haben wir uns zumindest etwas beim Asiaten bestellt und uns dann lange angeschwiegen. Ich wusste auch nicht, was ich mit ihm hätte reden sollen, obwohl wir uns wahrscheinlich viel zu sagen hätten. Wir haben uns schließlich monatelang nicht gesehen und leben auf einmal wieder unter dem selben Dach. Trotzdem sprachen wir nicht viel. Nur ein bisschen Small Talk. Ja, mir geht es auch gut. Nein, ich will nicht darüber reden, was passiert ist. Oh, mir ist noch etwas eingefallen, weshalb ich nochmal die Kreditkarte brauche.

Meinem Vater hat es gefreut, dass ich sein Angebot des Shoppens angenommen habe. Was blieb mir anderes übrig? Ich bin hier mit einer Sporttasche eingezogen.

Er redete auch darüber, wie sehr er sich freute, dass ich hier war. Mir war das zu viel, weshalb ich mich schon früh in mein Zimmer zurückzog. Ich war nicht erpicht darauf, weiter Friede Freude Eierkuchen mit ihm zu spielen.

Aber genau dieses Spiel würde mich nun wahrscheinlich immer begleiten. Schließlich musste ich zur Schule und zwar als völlig normales Mädchen. Regina Graf war ja nur deshalb umgezogen, weil ihr Vater einen neuen Job hatte. Es gab keinen anderen Grund.

Ich seufzte und drehte den Wasserhahn auf. Kaltes Wasser prasselte auf mich herunter, aber nachdem ich in dem Schlafsack so geschwitzt hatte, tat es gut. Trotzdem blieb ich nicht länger als nötig unter der Dusche. Das Bad fühlte sich fremd an und ich wollte hier raus.

Die Fliesen an den Wänden hatten einen hässlichen Grünton und mein dunkles Spiegelbild sah viel zu zerbrechlich aus. Ich hatte Augenringe und meine Locken waren zerzaust, und am Kinn prangte zusätzlich noch ein knallroter Pickel. Ich besaß nichts, um ihn zu verstecken, denn ich hatte nach und nach all meine Schminkutensilien aufgegeben. Wenn man das zehnte oder fünfzehnte Mal abrupt den Wohnort wechselte, war das nur noch unnötiger Balast.

Dieses Mal hieß es ja, ich würde hier langfristig bleiben. Ob das stimmte, zweifelte ich etwas an, aber das gestrige Shoppen hat die Hoffnung entflammt, tatsächlich ein Zuhause zu haben. Auch wenn es sich noch lange nicht so anfühlte.

Die Küche gab kein Frühstück her, mein Vater schlief noch und so mache ich mich bald schon auf den Weg zu dem Gymnasium, dessen elfte Stufe Regina Graf ab dem heutigen Tag besuchen würde. Zu Fuß waren es zwanzig Minuten, zumindest laut Google Maps, und während ich ohne Regenschirm und nur mit Sweatshirtpullover durch den Nieselregen lief, fielen mir zwei weitere Sachen ein, die ich kaufen wollte: ein Fahrrad und einen Regenschirm.

Zumindest meine Kopfhörer hatte ich auf den Umzügen nie verloren. Das hätte ich nicht zugelassen, denn ich hatte lange für sie gespart. Darum konnte ich mich mit lautem Melodic Death Metal beschallen lassen, während der Berufsverkehr um mich herum stinkte und der kalte Regen jegliche gute Laune zerschoss. Ich nahm die Kopfhörer nur einmal ab, um in einer Bäckerei zwei Butterbrezen zu kaufen - eine für jetzt und eine für später. Dann stand ich vor dem Schulgebäude.

Es war ein grauer Kasten zwischen anderen grauen Kasten, der mir wahrscheinlich nicht aufgefallen wäre, wären nicht all die anderen Schüler. Stimmen vermischten sich mit Lachen, mit hupenden Autofahrern und Fahrradklingeln, die sich den Weg durch die Massen bahnten. Es war der erste Schultag nach den Sommerferien, alle begrüßten sich und erzählten von ihrem Urlaub oder schimpften über das frühe Aufstehen oder über das Wetter.

Ich dachte wieder an die Bücher, die ich gelesen hatte. Eigentlich sollte mich jetzt ein gutaussehender Junge anrempeln, der  sich dann als meine einzig wahre große Liebe entpuppt. Aber das geschah natürlich nicht, auch wenn es am Eingang ein wenig Gedrängel gab.

Drinnen war der Weg zum Sekretariat ausgeschildert und schon bald stand ich in dem Raum, in dem ähnlich großes Durcheinander herrschte wie vor dem Gebäude. Dennoch entdeckte mich ein Lehrer, der mich an eine jüngere Version von Albert Einstein erinnerte. Das Haar war jedenfalls genauso wirr. Er stellte sich als Herr Weber vor, Oberstufenkoordinator und mein angeblich neuer Ansprechpartner. Ich hatte bereits wegen der Stundenplanerstellung Kontakt mit ihm, aber bei unserem E-Mailaustausch war mir entgangen, was für einen starken bayrischen Akzent er spricht. Es kostete mir einige Mühe, ihn zu verstehen.

Er überreichte mir nicht nur eine ausgedruckte Version meines Stundenplans, sondern auch einen Haufen weiterer Informationsblätter über das bayrische Abitur, über die angebotenen Wahlfächer und über was auch immer. Dann winkte er mir zu folgen.

"Heute habt ihr nur eine Vollversammlung, indem euch nochmal alles erklärt wird", erzählt er mir auf dem Weg. "Ist zwar dein erster Schultag hier, aber ist ja auch für alle anderen neu, dass sie nicht mehr in Klassen unterrichtet werden, sondern in verschiedenen Kursen. Dadurch findest du bestimmt schnell Anschluss. Ist ein recht netter Jahrgang."

Seine letzte Aussage begann ich anzuzweifeln, noch bevor wir die Aula erreicht haben, denn davor stritten sich ein Junge und ein Mädchen lautstark. Er schien ihr wohl fremdgegangen zu sein und Herr Weber musste schlichten, indem er beide schimpfend in den Raum scheuchte. Dort herrschte ein so lauter Lärmpegel, dass unsere Ankunft niemand bemerkte. Alle redeten und schrien durcheinander. Ich konnte beobachten, wie sie sich freuten, sich nach den Ferien wiederzusehen. Wie sich alle kannten, gemeinsam lachten und wie immer mehr neugierige Blicke in meine Richtung wanderten. Dann sei mal die Neue, Regina Graf.

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