3. Sei eine Schauspielerin

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Manchmal half es mir, mir vorzustellen, ich sei Protagonistin in einem Film. Die Kamera würde mich stets aus dem optimalen Winkel zeigen, die Lichtstimmung wäre perfekt organisiert und es gäbe ein Publikum, das sich emotional mit mir verbunden hätte.

Es würde mir warnend zurufen, wenn die Musik dramatischer wird und hinter mir eine dunkle Gestalt auftaucht, doch ihre Stimmen würden vor dem Fernseher verklingen. Und in einem solchen Moment, wo ich vor etwa hundert anderen Schülern stand und keinen Mut fand, würde es mir gutzusprechen und mich anfeuern. Und ich würde zeigen, was für eine starke Figur ich war.

Deshalb streckte ich auch meine Schultern durch, um taff auszuschauen. Ich musterte die Anwesenden ohne sie ernsthaft anzusehen. Es gab ein Mädchen mit knallpinker Kurzhaarfrisur, einen schlaksigen Jungen, der gerade ein Federmäppchen durch den Raum warf und ein paar freie Plätze. Letztere waren wichtig, weil ich nicht in der ersten Reihe enden wollte.

In der vierten waren zwei frei. Einer neben einem Mädchen, das mich noch nicht bemerkt hatte und lautstark mit den Jungen in der Reihe dahinter quatschte. Es schien um irgendein Video zu gehen, aber es war mir egal. Sie sprach in einem überheblichen Ton und das störte mich, weshalb ich mich auf die andere Gangseite zu einem blassen Jungen saß, der mich mit großen Augen beobachtete und dabei kein Wort sagte.

"Hi", grüßte ich schließlich und warf auch seinem Nachbarn ein freundliches Lächeln zu. Der blasse Junge starrte mich nur weiter an, aber der, der neben ihm saß, grinste und sagte: "Wer bist du denn, bist du neu?"

"Ne, hab mich nur verlaufen."

"Ernsthaft?"

"Natürlich bin ich neu. Ich bin Regina. Und ihr?"

"Ulli. Und das ist Sven." Er zeigte auf den blassen Jungen, der zumindest langsam realisiert hatte, dass er aufhören sollte mich anzustarren. Stattdessen blickte er jetzt nach vorne, wo Herr Weber mit einer Schülerin etwas diskutierte und sie schließlich auf ihren Platz wies, um mit der Vollversammlung zu beginnen.

Er begrüßte alle zurück ins neue Schuljahr und begann mit einem schlechten Witz darüber, dass man bei dem Wetter doch sowieso keine Sommerferien haben möchte. Zwei Schüler lachten, jemand sagte etwas mir unverständliches, aber es brachte noch weitere Schüler zu lachen. Dann begann Herr Weber über die kommenden zwei Jahre zu sprechen.

Das war der Moment, wo im Film ein Zeitsprung stattfinden würde oder irgendwie anders die Zeit vorangespult werden würde, damit das Publikum sich nicht langweilt. Das geschah natürlich nicht und so versuchte ich zuzuhören, weil ich echt nicht mehr so viel über den Schulalltag wusste. Und das war jetzt auch noch Oberstufe, es ging ständig um die Abiturrpüfungen und wie ab jetzt jede einzelne Note in unserem Abschlusszeugnis einfließen würde.

Ein bisschen stresste mich das schon. Mein Leben war in letzter Zeit völlig aus der Normalität geraten und nun zuzuhören, wie man das Abitur erreichen und danach ein Studium beginnen konnte, fühlte sich seltsam an.

Es fühlte sich nämlich machbar an. Ich konnte das tun.

Ich konnte das Gymnasium abschließen, irgendeinen Mist studieren oder ein Jahr ins Ausland gehen oder eine Ausbildung beginnen oder was auch immer. Alle um mich herum hatten wahrscheinlich schon solche Pläne. Mir ist bis eben nicht klar gewesen, dass ich nun auch wieder solche Pläne schmieden konnte. Dass ich überhaupt eine Zukunft habe, in der ich etwas selbst entscheiden konnte und in der ich machen konnte, was ich wollte.

Nur ... was wollte ich machen?

Für den Moment war natürlich der erste Schritt das Abitur selbst. Beziehungsweise in meiner Rolle als Regina Graf hineinfinden, nicht den falschen Personen auffallen und irgendwie mit meinem Vater auskommen. Vielleicht auch Freunde finden. Oder sogar einen festen Freund?

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jul 06, 2020 ⏰

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