Gegenwart
Es war noch nicht mal acht Uhr am Morgen, und schon klingelte das Telefon. Selbst bei geschlossener Badezimmertür und laufender Dusche konnte sie den markanten Drei-Glocken-Klingelton erkennen, der ein eingehendes Ferngespräch ankündigte.
Sie beschloss, ihn zu ignorieren, weil es wahrscheinlich sowieso nur ein Telefonverkäufer oder die Presse war. Beide Alternativen waren widerwärtig, aber wenn sie die Wahl hätte, würde Katelyn sich für den Telefonverkäufer entscheiden.
Telefonverkäufer waren bloß auf ihr Geld aus. Die Presse wollte ihr Blut. Auch nach all der Zeit noch.Fünfzehn Jahre morgen.
Sie hielt den Kopf unter den heißen Strahl und spürte, wie der Schaum des Shampoos über ihre geschlossenen Augen und Wangen floss. Das konnte nicht stimmen. Wie konnten fünfzehn Jahre endloser Tage und schlafloser Nächte so schnell vergangen sein? Sie hätte gedacht, dass wenigstens die öffentliche Neugier inzwischen abgeflaut wäre.
Aber wenn überhaupt, war diese Interesse mit jedem weiteren Jahrestag eher noch größer geworden. Seit Wochen riefen Reporter an, manche aus so weit entfernten Ländern wie Australien und Japan:
Wie war ihr Leben heute? Gab es irgendwelche neuen Spuren? Irgendwelche neuen Männer? Vielleicht einen weiteren Selbstmord? Hatte sie noch Hoffnung ihre Tochter jemals wiederzusehen? Galt sie für die Polizei immer noch als Verdächtige im Fall des verschwundenen Kindes?
Nur das Precious kein Kind mehr sein würde. Sie war kaum zwei Jahre alt gewesen, als sie in einem
mexikanischen Luxusresort spurlos aus ihrem Bettchen verschwunden war, während ihre Eltern, wie die Presse zu berichten wusste, ,, sich mit Freunden in einem Restaurant in der Nähe amüsiert hatten."Heute wäre ihre Tochter siebzehn. Vorausgesetzt, dass sie noch lebte.
Und um einige der Fragen zu beantworten: Es gab keine neuen Spuren, sie hatte die Hoffnung nie aufgegeben, es war ihr mittlerweile egal, was die Polizei von ihr dachte, und ihr Leben wäre sehr viel besser, wenn die Geier von der Presse sie verdammt noch mal endlich in Ruhe lassen würden.
Mit gesenktem Kopf griff sie nach oben, um die Dusche anzudrehen, und stellte befriedigt fest, dass das aufdringliche Klingeln aufgehört hatte. Ihr war klar, dass es nur ein vorübergehender Aufschub sein würde. Wer immer angerufen hatte, würde es wieder versuchen.
Das war immer so.Sie trat auf den geheizten grau-weißen Marmorboden ihres Badezimmers, wickelte sich in einen weißen Frotteebademantel und wischte mit einer Hand einen Streifen in den beschlagenen Spiegel über dem doppelten Waschbecken.
Sie starrte in die müden grünen Augen einer sechsundvierzigjährigen Frau mit feuchtem blonden Haar, klein Vergleich zu der reservierten Schönheit mit dem gehetzten Blick, die die Zeitung zum Zeitpunkt von Precious' Verschwinden beschrieben hatten, wobei sie es irgendwie geschafft hatten, die Worte reserviert und Schönheit hässlich und anklagend klingen zu lassen.
Um den zehnten Jahrestag herum war aus der Schönheit eine auffällige Erscheinung geworden, reserviert hatte sich in distanziert verwandelt. Und im vergangenen Jahr hatte ein Reporter sie noch weiter degradiert, zu einer immer noch attraktiven Frau mittleren Alters.
Es war ein nachlässiges Kompliment, aber trotzdem vernichtend. Egal. Daran hatte sie sich gewöhnt. Katelyn rubbelte ihre Kopfhaut kräftig mit einem weißen Handtuch ab und sah ihre neue Frisur schlaff um ihr Kinn hängen.
Der Frisör hatte versprochen, dass sie mit einem Bob junger aussehen würde, doch er hatte ihr feines Haar falsch eingeschätzt, das sich einfach nicht in Form bringen ließ.
Katelyn atmete tief durch und dachte, dass die Zeitungsartikel sie morgen wahrscheinlich als ,, die ehemals attraktive Mutter des vermissten Kindes Precious Malik" bezeichnen würden.
DU LIEST GERADE
She's Not There
RomanceKatelyn Malik ist voller Vorfreude, denn ihr Mann Zahid hat sie zur Feier ihres Hochzeitstages in ein Luxushotel in México eingeladen. Gemeinsam mit ihren beiden kleinen Töchtern reisen sie an und beziehen ihre komfortable Suite. Doch was als paradi...