VIII

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Er ist nicht gut im Bogenschießen. Seine Konzentration reicht dafür nicht aus, ihn strengt es an die geforderte Haltung zu bewahren und jeder Schuss ist mehr ein Glückstreffer, als gewollt, aber seine Mutter will, dass er es mindestens anderthalb Jahre versucht hat. Und deswegen tut er es.

Am Anfang hat es ihm sogar Spaß gemacht. Damals, als er noch nicht verstanden hatte, worauf genau es ankommt, einen Pfeil aus dem Köcher zu ziehen, an der Sehne festzuklemmen und selbst dann ruhig zu bleiben, während er auf die bunten Ringe zielt.
Erst als er gelernt hat, dass es einen Unterschied zwischen richtig und falsch gibt, hat er angefangen die Lust zu verlieren.

Zwischen seinem Taekwondo Training und Schulschluss liegt jedoch genug Zeit ein paar Pfeile auf der Bahn hinter der Sporthalle zu verschießen und er weiß nicht, was er sonst tun könnte, ganz zu schweigen davon, dass es seine Mutter glücklich macht. Und gegen dieses Argument kommt er niemals an.

Ihm tut sein Rücken weh, als er den Bogen abspannt und auseinander baut, aber er versucht es zu ignorieren und sich gedanklich auf das darauffolgenden Training vorzubereiten. Taehyung hat er zu diesem Zeitpunkt beinahe geschafft zu verdrängen.

Sein Magen schmerzt ein wenig, da er sich zum Mittag eine Schale Pommes gegönnt hat, und sich seitdem sehr aufgebläht fühlt. Auch jetzt noch, als er zu den Umkleiden stapft, um sich umzuziehen.
Jeder Schritt fühlt sich schwer an und innerlich bereut er diese Entscheidung, doch nach dem Physikunterricht hat er sich kaum noch auf den Beinen halten können. Für gewöhnlich verspürt er kein Verlangen, vor allem nicht, was Essen betrifft, doch heute kommt zu seiner üblichen alltäglichen Erschöpfung etwas hinzu, was er normalerweise nicht spürt.

Aufregung, Nervosität und vielleicht auch eine winzige Spur Neugier auf das, was ihn heute Nachmittag erwarten würde.
Sein erstes gemeinsames Schulprojekt mit einem Jungen, der nicht nur äußerst beliebt war, sondern sich auch durch nichts hat abhalten lassen mit ihm diese Hausaufgabe zu erledigen. Obwohl er bis Montagnachmittag unsichtbar gewesen war, sich gewehrt hatte und selbst Taehyungs Freunde seine Entscheidung infrage gestellt hatten.

Vor fünf Tagen war er dagegen gewesen, zu groß war seine Angst, es könnte sich alles in eine Richtung entwickeln, die den Plan seiner Mutter, ihm ein soziales Umfeld zu schaffen, endgültig vereiteln würde. Doch mittlerweile denkt er gar nicht mehr daran, was kommen könnte.

Er tritt seinem Partner gegenüber, sie beginnen mit dem Training und gedanklich versetzt er sich selbst in ein Buch, das er vor Jahren gelesen hatte. Es hatte von einem Jungen gehandelt, der seit seinem neunten Lebensjahr an einen Rollstuhl gefesselt, den Stempel des Sonderlings getragen hatte. Überall wo er hingekommen war, hatten die Leute ihn gemieden oder mitleidig angesehen, und er war förmlich aufgegangen darin, hatte die Vorteile daraus gezogen, wie eine Mücke das Blut aus anderen Lebewesen.
Er war der Sonderling geworden, der ihm die Gesellschaft vorschrieb zu sein.

Erst zehn Jahre später hatte er jemanden getroffen, der ihn auf eine andere Art und Weise gesehen hatte. Jemand, der hinter dem Rollstuhl und leeren Blicken, einen Jungen gesehen hat, der ein unwahrscheinliches Gespür für die Malerei besitzt. Sie war es, die dem Jungen die Augen geöffnet hatte, und sie war es, die dafür gesorgt hatte, dass er das Trauma des Autounfalls vor zehn Jahren verarbeiten und schlussendlich aus seinem Rollstuhl aufstehen konnte.

Eigentlich denkt er nicht, sich selbst wirklich in diesem Buch wiederzufinden. Immerhin weiß niemand etwas davon, dass er mehr Hobbys gehabt hatte, als Amerika Präsidenten, und er bezweifelt stark, dass es etwas gibt, dass Taehyung ihm noch beibringen könnte. Vielmehr denkt er in diesem Moment über den einen Absatz nach, den er damals nach dem Lesen seiner Mutter zitiert hat, und jetzt gerade aus irgendeinem Grund nicht mehr loslassen kann.

End of Spring  ⇢ TaekookWo Geschichten leben. Entdecke jetzt