Ü B E R R A S C H U N G

Es war damals eine echt beschissene Zeit und ich hätte nicht gedacht, dass sich dies in naher Zukunft ändern würde. Die Tage waren regnerisch, der Haussegen hing schief, auf der Arbeit gab es nichts als Stress; und zu allem Überfluss ging mein Auto kaputt. Bis heute kann ich nicht sagen, was genau es war, ich schaltete das Ding morgens an und es wollte und wollte nicht anspringen. Mein Alter hatte mich gerügt, ich hätte Mechatroniker werden sollen, statt mich in irgendeiner Bank auf meinen Hintern zu setzen und Leuten das Geld zu verweigern, das sie brauchten. Mein Vater war nie ein Freund von Banken, aber das weißt du ja.

Jedenfalls war die logische Schlussfolgerung aus dem Tod meines Wagens die, dass ich den Bus nehmen musste, um zur Arbeit zu kommen. Zwar war ich nicht faul, aber... mal ehrlich, hättest du dich bei diesem Wetter auf's Fahrrad gesetzt? Und jetzt grins nicht so verlogen, ich kenne dich gut genug.

Es war ein Albtraum. Oder eher ein Schulbus.
Morgens gleich von Wesen zwischen Kindheit und Pubertät umgeben zu sein, ist nichts für mich, ich konnte nie wirklich viel mit Kindern anfangen, die nicht mit mir verwandt waren.
Seit ich meinen Führerschein vor dazumal vier Jahren gemacht hatte, bin ich kein Bus mehr gefahren, aber ich fand schnell zu der alten Gewohnheit zurück, die du sicher nur allzu gut nachvollziehen kannst. Ich nahm mir Kopfhörer mit und übertönte das Gerede der Kinder mit der Musik, die zu dieser Zeit ihren Weg auf mein Handy gefunden hatte, das funktionierte auch ganz gut.

Du warst von der ersten Fahrt an mit in diesem Bus, aber du bist mir zuerst gar nicht aufgefallen. Du warst ein Geist. Jemand, der da war, den man täglich einsteigen sah, über den man jedoch nicht weiter nachdachte. Zumindest bis zu dem Tag, an dem auch meine Kopfhörer den Geist aufgaben.

Linie 730, das reinste Pech für uns, die an den beiden vorletzten Haltestellen unseres damaligen Heimatkaffs einsteigen mussten. Die Grippewelle war vorerst gnädig mit uns gewesen, viele Schüler waren krank und der Bus nicht komplett überfüllt. Aber an genau diesem Tag waren so viele wieder auf den Beinen, dass wir beide unsere Beine benutzen mussten, denn wir fanden keinen Sitzplatz mehr.

Ich stand neben dir und hielt mich an einer der Halteriemen über unseren Köpfen fest und stellte gerade fest, dass einer meiner Kopfhörer rauschte und der andere gar keinen Laut mehr von sich gab, während du zwischen mir und einem Zweitersitz lehntest und auf deinem eigenen Telefon rumtipptest. Erst da fielst du mir so richtig auf, denn verdammt, ich beneidete dich darum, dass du zwei funktionierende In-Ears hattest, während ich dem Gespräch einiger Fünftklässler lauschen konnte, in dem es darum ging, dass die Marina den Paul geküsst hatte. Dann fiel mir etwas weiteres auf.

Du warst kein Schüler. Nein, du schienst in etwa meinem Alter zu sein, so Anfang 20. Kleiner, als ich, schwarze Haare, braune Augen. Und du sahst gelangweilt aus, die Lider etwas gesenkt, dein Körpergewicht fast gänzlich gegen den Sitz gelehnt und das Licht deines Displays in den Augen (daher war mir die Farbe erst aufgefallen, ich bin kein Augen-Typ).

Es war eine simple Feststellung. Du bist hier, ich bin hier, wir schienen beide nicht gerade begeistert, mit dem Bus zu unserem Ziel zu fahren. Aber ich musste recht lange geschaut haben, denn auf einmal sahst du mich an.
Wie ein normaler Mensch das in so einer Situation nun einmal tut, wollte ich nun einfach wegschauen, aber dann Griff etwas, was man als Zufall oder Schicksal bezeichnen kann, in Form einer Vollbremsung des Busfahrers ein.

Ich stolperte nach vorne, ließ dabei meine Arbeitstasche fallen und fing mich gerade so am Geländer des Sitzes ab; dabei geriet das Kabel deiner Kopfhörer zwischen meinen Zeige- und Mittelfinger und ich zog sie dir raus. Mit einem Mal standest du da, ohne Musik in den Ohren, zwischen die Wand und einen fremden Kerl gepresst. Das war uns beiden mehr als unangenehm.

"Entschuldigung", hatte ich gesagt, als ich wieder in einen sicheren Stand kam.
"Schon okay", hattest du gesagt.
"Ist alles okay?", hingst du dann an.