1: Blicke

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Ja, ich war unvorsichtig. Zu wenig paranoid. Zu hoffnungsvoll.

Zwölf Jahre lang hatte ich keinen Vampir zu Gesicht bekommen. Ich ignorierte all die verdächtigen Fälle von Selbstmorden und verschwundenen Teenagern in den Nachrichten. Ich verschwendete keinen Gedanken mehr an Jonas, der mir damals im letzten Moment durch die Finger geschlüpft war. Beinahe hätte ich die Verschwörung der Vampire ans Licht bringen und ihre Pläne vereiteln können. Ich war so nah dran --

Aber das Leben ging weiter. Ich wurde Mutter, und meine Tochter beanspruchte meine ganze Aufmerksamkeit. Judith war ein wundervolles Kind; ohne sie wäre ich in dieser Zeit garantiert wahnsinnig geworden.

Ohne sie -- und ohne Daniel, der ihr ein wundervoller Papa war, obwohl er wissen musste, dass sie nicht von ihm war.

Daniel, den ich als netten, etwas verrückten Jungen kennengelernt hatte, als wir beide noch zu viel zu jung waren, um an eine ernsthafte Beziehung zu denken. Der bei mir blieb, obwohl ich ihn ins Gefängnis gebracht hatte. Der mit mir den Sprung aus einer wilden Jugend in die nicht weniger beängstigenden Gewässer des Erwachsenenlebens wagte, komplett mit Kind und Geldsorgen und eigenem Haushalt. Der geduldig alles ertrug, was das Leben an uns heranschmiss.

Daniel, der eines Tages, als Judith zwölf Jahre alt war, plötzlich fort war.

Seine letzte Nachricht war kryptisch, aber für mich konnte sie nur eines bedeuten: Die Vampire hatten ihn geholt.

Sie hatten ihn geholt oder er hatte sich ihnen angeschlossen -- was auch immer.

Gegenüber Judith tat ich so, als wäre es nicht schlimm. "Wir schaffen es auch ohne Papa", sagte ich, mehr zu meiner eigenen Bestärkung als zu ihrer. "Irgendwann kommt er zurück."

Er würde nicht zurückkommen, das wusste ich. Von den Vampiren kam niemand zurück.

Einige Wochen lang gelang es mir, den Zorn und die Wut in mir niederzukämpfen und einen geregelten, friedlichen Alltag vorzuspielen. Dann gab ich es auf.

Sie hatten mir Daniel genommen. Das bedeutete Krieg.

Judith durfte natürlich nichts erfahren. Sie war immer noch das Wichtigste in meinem Leben; ich musste sie um jeden Preis aus diesem Krieg heraushalten. Bei meiner Suche nach einer geeigneten Möglichkeit stieß ich auf die Website des Rochus-Internats.

Ich hatte schon davon gehört. Bildungsforscher lobten das Institut als die modernste und innovativste Schulform des Landes. Natürlich war der Besuch extrem teuer -- doch es gab Stipendien für besonders begabte Kinder.

Judith war besonders, soviel war sicher. Ob sie begabt im Sinne des Instituts war, wusste ich nicht; aber ich beschoss, es zu versuchen. Zu unserer beider Überraschung bestand sie die Aufnahmeprüfung mit Bravour und bekam das Stipendium. Gleich im Herbst würde sie ins Internat gehen -- und ich konnte meinen Krieg gegen die Vampire wieder aufnehmen, ohne mich um meine Tochter sorgen zu müssen.

Dachte ich.

Ja, ich war naiv. Der Kampfgeist, der mir unter der Haut brannte und in meinen Fingern juckte, ließ mich meine altgewohnte Vorsicht vergessen. Ich ignorierte Judiths vorsichtige Andeutungen darüber, dass die Schule ihr irgendwie komisch vorkam. Ich ließ mich von den Versprechungen des Schulprospekts und dem medialen Lob blenden. Ein Institut, das derart im Rampenlicht der Öffentlichkeit stand, konnte doch nichts zu verbergen haben, dachte ich.

Dass die echten Vampire im Gegensatz zu denen aus den Romanen kein Problem mit Licht haben, fiel mir nicht ein.

Ich hatte Judith geradewegs in die Höhle des Löwen geschickt -- und ich ahnte von nichts. Von Hass geblendet schmiedete ich meine Pläne zur Enttarnung der Vampire, ohne zu wissen, dass ich diesen Krieg bereits verloren hatte.

Diesen Krieg -- und meine Tochter.

Greed -- Die Schule der VampireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt