44 | I realize how much I need you.

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Er ist Mitte Zwanzig, seit dem letzten Jahr fest angestellt als Lehrer, hat dieses Jahr seine erste, eigene Klasse bekommen und ist das komplette Gegenteil von seiner nervigen Mutter?" Lennox verengte die Augen zu dünnen Schlitzen, deutete mit dem Löffel auf mich und wartete darauf, dass ich seine Worte bestätigte.

„So hätte ich es auch zusammenfassen können", stimmte ich schmunzelnd zu. Anstatt ihm die Eckdaten zu geben, hatte ich Lennox jedes kleine Detail aus dem Leben meines Cousins erzählt. Mit eingeschlossen seine schlimmsten und besten Eigenschaften, unser Verhältnis und das meine zu seiner Mutter. Lang und breit hatte ich ihn darüber aufgeklärt, wie nah wir uns standen und wie wichtig er mir war. Dabei hätte ich mich definitiv kürzer fassen können. Oder sollen.

Lennox lachte leise und ich ließ keine Sekunde verstreichen, bis ich in sein Lachen mit einstimmte. Der intime Moment zwischen uns, der sich durch die Störung seiner Mutter ausgelöst hatte, hatte uns den restlichen Abend nicht erschwert. Im Gegenteil. Ich hatte das Gefühl, die Unterbrechung hatte uns dabei geholfen, entspannter zu sein, auch wenn das Verlangen nach ihm in meinem Inneren das vollkommen anders sah. Lennox überraschte mich mit einer offenen und lustigen Art, die ich für diese Stunden nicht mehr erwartet hatte. Ich hätte es ihm nicht vorwerfen können, wenn er sich nach dem, was geschehen war, nach Ruhe gesehnt hätte.

Er hatte die wunderbare Eigenschaft an sich, mich aus meinen Gedanken zu befreien und mir ein Licht am Ende des Tunnels zu zeigen. Langsam vermutete ich, dass ich ebenfalls dazu imstande war. Ich konnte ihm ein Licht zeigen, das heller strahlte als alles andere.

„Ist deine Tante wirklich so schlimm? Ich meine, sie will doch nur das Beste für dich, oder?", hakte er neugierig nach. Er stellte die leere Schüssel auf den Nachttisch und streckte gemütlich alle viere von sich. Die Hände verschränkte er locker hinter seinem Kopf und er legte die Fußknöchel übereinander. Geduldig blickte er mich an, wartete auf meine Antwort und studierte währenddessen mein Gesicht.

„Das will sie, ja. Ihre Methoden sind falsch. Vor allem, weil sie die Schuld für die kleinsten Dinge bei meinem Vater sucht. Sie konnte ihn noch nie leiden. Nicht, als meine Mutter gelebt hat und schon gar nicht nach ihrem Tod. Nach diesem ist es sogar noch schlimmer geworden. Ich glaube, dass sie mich am liebsten bei sich hätte. Bei ihr zuhause, unter ihrer Beobachtung." Langsam schüttelte ich den Kopf.

Nachdenklich schaufelte ich einen weiteren Löffel des Vanillepuddings in mich hinein, der mit einer unglaublich köstlichen Beerensauce überzogen war. Ich konnte beobachten, wie Lennox die gegebenen Informationen verarbeitete und versuchte, sich auf diese einen Reim zu machen. Es bereitete mir unglaubliche Freude, ihn einfach nur anzusehen, mich zu fragen, was in seinem Kopf vorging und dabei alles andere zu vergessen.

Trotzdem senkte ich den Blick irgendwann auf den Inhalt meiner Schüssel. Ich hatte noch eine gute Portion übrig, während er seine schon gelehrt hatte. Vermutlich lag es daran, dass ich meine Zeit damit verbracht hatte, ihm Ryan vorzustellen, als mich dem Nachtisch zu widmen.

„Wahrscheinlich versucht sie einfach durch dich an ihrer Schwester festzuhalten, meinst du nicht? Du bist ihre Tochter. Vermutlich seht ihr euch ähnlich oder habt gleiche Ansichten. Ich denke, dass sie sie einfach vermisst, so wie du." Lennox warf ein ganz anderes Licht auf die Situation und die Gründe, die meine Tante anspornen konnten.

Ich mochte es nicht, mich in ihrer Gegenwart aufzuhalten und ich wusste, dass es meinem Vater genauso ging. Die neuen Gründe würden erklären, warum sie sich so sehr um mich sorgte, noch mehr, als vor dem Tod meiner Mutter. Aber sie erklärten keines Falls, warum sie dabei das Leben meines Vaters immer weiter erschwerte. Sollte ihr nicht daran gelegen sein, ihn zu unterstützen, damit es dadurch mir besser ging?

Paralyzed | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt