Chap. 2 - Tabletten

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Es waren genau 20 Minuten die mir meine Mum ließ, bevor sie in mein Zimmer gestapft kam, mit der nächsten Dosis Tabletten.
Genervt drehte ich mich auf die andere Seite, weg von ihr und verhedderte mich gleich in den verschiedenen Kabeln, die an mein Handgelenk und an meiner Brust befestigt waren.
Fluchend versuchte ich mich aus diesem Kabelsalat zu befreien und meine Mum die mir zur Hilfe kam, wurde glücklicherweise schnell von Olivia abgelöst, die mich relativ zügig aus dem ganzen Gewirr von Kabeln befreite. Dann nahm sie meiner Mum die Tabletten ab und brachte sie zurück ins Bett.

Lustlos starrte ich auf das Häufchen Pillen neben mir und wünschte es würde sich einfach in Luft auflösen, wenn ich nur lang genug darauf starrte.
Doch was ein Wunder, es passierte nichts.
Kaum war Olivia wieder zurück, drückte sie mir wortlos die Tabletten mitsamt einem Glas Wasser in die Hand und deutete mir so an, dass ich auch diesen Tag später aus meinem Gedächtnis streichen könnte, da ich mich sowieso an nichts mehr erinnern würde. Dann setzte sie sich in den Bürostuhl gegenüber meines Bettes und atmete tief aus.
Ich sah aus dem Augenwinkel, wie sie mich abwartend beobachtete und jede meiner Bewegungen fixierte. wie in Zeitlupe griff ich nach dem Glas und führte die Tabletten an meinem Mund, doch kurz vorher hielt ich inne und setzte ab.

"Hey Olivia, kann ich dich mal was fragen?"

Sie schreckte auf und setzte sich gerade hin, der Blick, der sich in ihrem Gesicht ausbreitete, gefiel mir überhaupt nicht. Wir hatten schon so viele Gespräche geführt über Gott und die Welt aber sobald sie dieses professionelle Lächeln aufsetzte, war eine ehrliche Antwort so wahrscheinlich wie das es mal wärmer als 26 grad in London werden würde.

"Klar, erzähl."

"Wie kann man seine eigene Tochter nur so mit Medikamenten voll pumpen wollen, dass sie sich nicht mal an den letzten Tag erinnern kann?!"

Ihre Fassade fiel in sich zusammen und das gerade noch so freundliche Lächeln brach ab. Sie seufzte und drehte sich weg von mir. Dann begann sie ganz hektisch die Sachen auf meinem Schreibtisch zu organisieren.
Ich wusste das sie mir diese Frage nicht beantworten würde und irgendwas in mir wusste auch warum, aber ich konnte mich nicht mehr daran erinnern.
Ich verdrehte die Augen und griff nach meinem Handy. Auf Social Media war nicht viel los und auch der Rest auf meinem Handy verhielt sich sehr ruhig.
Irgendwie war alles viel zu ruhig.

Es war wie die Ruhe vor dem Sturm.

Die angespannte Stille brachte mich fast um den Verstand und ich konnte es kaum mitansehen wie Olivia alles versuchte, um bloß kein Gespräch mit mir zu starten. Sie war noch sehr jung und wir verstanden uns seit der ersten Sekunde richtig gut miteinander. Sie machte mich nicht anders oder komisch obwohl ich ein Katheter in meiner Brust und eine Sonderanfertigung eines 'Fitbits' an meinem Arm hatte, der mich rund um die Uhr überwachte und kaum war ich mehr als 1 km von meiner Mutter entfernt, oder konnte er länger als 10 minuten kein Signal empfangen (nichts scannen) Alarm schlug und eine Nachricht an meine Mutter sendete.

Es war alles andere als einfach mit so einer Krankheit, plus eine über-besorgten Mutter, die obendrein auch noch allein erziehend war, zu leben.

Doch Olivia behandelte mich so normal wie es ging und hatte eigentlich immer ein Lächeln auf dem Gesicht und wenn sie merkte dass ich mal meine Zeit für mich brauchte, ließ sie mich gegen den Willen meiner Mum, auch ohne Probleme, mal ein paar Stunden alleine.

Manchmal konnte meine Mum auch ganz nett sein. Das waren die Tage an denen Olivia darauf geachtet hatte ob und wie viele ihrer Tabletten sie nahm und Marc uns mal besuchen kam. Er war mega nett und ich konnte mit ihm über vieles reden, doch als sich heraus stellte das er verheiratet war, eskalierte die Situation zuhause nur noch mehr.
Seitdem konnte man meine Mum wirklich in die Tonne hauen.

"Frühstück!"

Olivia holte mich mit einem lauten Klirren aus meinem Gedankenkreisel und bückte sich danach fluchend um die heruntergefallene Gabel aufzuheben. Sie stellte das Tablett mit Rührei, Marmeladentoast und Protein-Smoothie auf meinem Bett ab.
Rührei.
oh oh, das konnte nur bedeuten dass meine Mutter mal wieder verlangt hatte meine Dosis Medikamente zu erhöhen, oder Olivias  Schichten zu verlängern.
Olivia wischte die Gabel an ihrem T shirt ab und stach sie ins Rührei.

"Heute sind wir beide dann."
Mit einem Seufzer versengte sie die Gabel voll mit Rührei in ihrem Mund und stand wieder auf.

"Ich hole dir kurz eine neue Gabel, okay?" sie drehte sich zur Tür und warf noch einen Blick zurück " Und tust du mir und deiner Mutter bitte den Gefallen und schluckst deine Medikamente? Genieß es, ab morgen kommt noch eine dazu."

Danach drehte sie sich wieder um und lief nach unten.
Ich betrachtete die bunten, kleinen Plastikhülsen mit den verschiedensten Pudern und Erzen darin.
Sie waren Schuld daran, dass ich mich nicht an meine Kinderzeit erinnern konnte und dass machte mich unglaublich wütend. Es war als würden man einfach 18 Jahre von mir stehlen und mir nicht mal die Chance geben sie zurück zu bekommen.
Ich konnte dieses ewige Tabletten schlucken garnicht mehr ab. Ich fand es zum kotzen! Ständig hatte ich Schmerzen an Stellen die nicht von meiner Krankheit betroffen waren. Ewige Übelkeit und Kopfschmerzen gehörten zu meinem Alltag dazu und immer häufiger kamen meine Mutter und ich uns in die Wolle und kaum tat ich etwas, was ihr nicht passte fügte sie halt noch eine Tablette zu meiner täglichen Dosis hinzu.

Diese Frau kontrollierte mein komplettes leben und konnte es so gestalten wie es ihr passte. Albträume verfolgten mich seither, weswegen ich nicht mehr schlafen wollte und die Nächte darum immer auf dem Vordach verbrachte.
Ich hatte niemanden was davon erzählt und auch wenn Olivia wusste dass ich so manche Nacht einfach nur auf dem Vordach saß, erzählte sie meiner Mutter kein Wort. Das einzige worauf ich mich gefasst machen musste in so einer Situation war, dass sie mich den ganzen Tag nur kopfschüttelnd angucken würde, sobald sie mir begegnete.

Eine ungeheurere Wut und Trauer stieg in mir auf. Vielleicht war ich auch einfach nur neugierig aber ich war fest entschlossen die Tabletten ab heute abzusetzen.
Keine einzige Medizin die ich nicht verschrieben bekam sollte ab heute noch meinen Körper betreten!

Midsummer SeasonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt