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"Mädel." Ich erstarre bei der Berührung an meiner Schulter. "Was machst du hier?" Ich hebe den Blick. Ein alter Mann schaut mit schiefgelegtem Kopf auf mich herab. Er steht auf einen Stock gestützt. Die schummrige Neonbeleuchtung reicht nicht aus um seinen Gesichtsausdruck zu deuten. "Bist du hier vorhin rumgerannt und hast an alle Türen geklopft?"

Wieder brennen meine Wangen vor Scham als ich den Blick senke und nicke. "Wolltest du was verkaufen?" Jetzt schüttle ich den Kopf. "Komm mit. Die Flure sind hier nicht so sicher, dass man sich schlafen legen sollte." Während ich mich frage wie dieser Mann in den fünften Stock gekommen ist, schließt er eine Tür auf, ein Schloss nach dem anderen, und hält sie dann für mich offen.

Als er mein Zögern bemerkt, bretet sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus, das ihn plötzlich nicht viel älter als 70 erscheinen lässt. "Keine Sorge. Egal in welcher Verfassung du bist, ich hätte keine Chance gegen dich." Zweifelnd hebe ich eine Augenbraue, betrete aber trotzdem seine Wohnung.

Ich ziehe meine Schuhe aus und sehe mich dann zögerlich um. Die Wohnung ist anders geschnitten und geräumiger als meine. Ich stehe direkt im Wohnzimmer und links befindet sich eine Küchenzeile. Rechts befinden sich zwei Türen, die beide offen stehen. Im Vorbeigehen erkenne ich in der hinteren das Schlafzimmer und in der vorderen das Bad.

An den Wänden hängen kleine Schwarzweiß Aufnahmen und auch ein paar neuere Bilder. Sie alle zeigen einen jüngeren Earl und eine gleichaltrige Frau. Auf den neueren sind neben den beiden auch zwei Kinder zu sehen. Im Vorbeigehen erhasche ich einen Blick auf ein ovales Foto, das auf der kleinen Kommode liegt. Die Ränder sind so vergilbt, dass man nur noch vermuten kann, wer darauf zu sehen ist.

Obwohl es aufgeräumt und recht ordentlich ist, überwiegt ein muffiger Geruch. „Ich bin übrigens Earl", stellt er sich vor und deutet gleichzeitig auf einen braunen Sessel, der mal dunkelgrün gewesen ist. Ich setze mich und er sich gegenüber in den anderen Sessel, der genau wie meiner aussieht.

„Tate." Während ich mich nur auf die Kante des Sessels hocke, lehnt Earl sich in seinem zurück. Er mustert mich. Seine Augen sind dunkel und auf seinem Kopf ist kein einziges Haar mehr zu finden. „Also Tate, wie kommt ein Mädchen wie du in so ein Haus wie dieses?"

Mit einer Mischung aus Erschrecken und Unsicherheit ziehe ich die Schultern hoch. Als ich nicht antworte, sondern nur stumm auf den alten Teppichboden seufzt Earl. „Warum hast du bei diesen Menschen an der Tür geklopft?"

Das ist schon eher eine Frage, bei der ich zum Antworten geneigt bin. Egal, wie unangenehm es mir ist. „Ich wollte duschen und bei mir funktioniert weder Wasser noch Strom." Ich traue mich nicht den Blick zu heben, denn ich weiß, dass seine Musterung jetzt ganz andere Ausnahmen annehmen wird.

Er klopft auf seinen Oberschenkel, dann stürzt er sich auf die Lehne und erhebt sich. „Komm mit." Er geht Richtung Tür. Ich schließe gequält die Augen. Toll gemacht, Tate.

Doch wider meiner Erwartungen öffnet er nicht die Wohnungstür, sondern die Tür, die zum Badezimmer führt. Er schaltet das Licht ein, drückt mir dann ein flauschiges Handtuch in die Hand und kramt in der Schublade der Kommode neben den Sesseln.

„Hier, bitte. Probier ihn erstmal aus. Ich benutze den Schlüssel nie. Wenn man alleine wohnt, ist das einfach nur Zeitverschwendung." Er grinst und entblößt überraschend weiße Zähne. Ich halte das Handtuch gegen meine Brust gepresst und umklammere den Schlüssel. Ich teste das Schloss, welches einwandfrei funktioniert.

„Lass dir Zeit, Mädel."
„Danke", hauche ich, immer noch total ergriffen von seiner Nettigkeit. Ich hatte die Hoffnung schon nach den ersten zehn Türen aufgegeben, und nach den ersten zwanzig habe ich einfach nur weiter gemacht, weil ich nichts unversucht lassen wollte.

„Warte noch kurz", hält er mich auf, als ich die Tür schließen will und verschwindet im Schlafzimmer. Ich verharre regungslos und versuche keine Panik zu schieben. Gleichzeitig frage ich mich, wann ich wieder zu diesem Mädchen geworden bin. Die Antwort ist klar. Es war genau vor einer Woche in dem Schlafzimmer.

Earl steht vor mir, drückt mir einen Pullover in die Hand und nickt mir stumm zu. Sein Blick verharrt auf dem blauen Stoff bevor er sich mit einer entschlossenen Bewegung abwendet.
„Es wird dir nicht ganz passen, aber die Sachen sind sauber." Obwohl ich mich gedemütigt fühlen sollte, weil meine graue Jogginghose und mein T-Shirt vor Flecken und Dreck trotzen, kann ich ihm einfach nur dankbar anlächeln und versuchen mein Schluchzen zu unterdrücken.

„Wie gesagt, keine Eile. Du kannst alles benutzen, was da ist", sagt er und dreht sich weg. Ich schließe die Tür ab, lehne mich gegen sie und schon laufen Tränen über meine Wange. Schneller als je zuvor ziehe ich mich aus, lege meinen Wohnungsschlüssel ganz oben auf meine Kleidung und steige in die Duschwanne. Ich teste das Wasser nicht. Ich stelle mich direkt unter den Strahl. Regungslos lasse ich das Wasser über meinen Körper laufen. Und noch nie, in meinem ganzen Leben, hat sich eine kalte Dusche so gut angefühlt. Ich wimmere vor Glück und halte mein Gesicht in den Strahl.

Ich benutze das Duschgel, wieder und wieder. Wasche meine Haare, spüle es wieder aus und reibe sie erneut ein. Das ist meine erste Dusche seit einer Woche. Liss und Toni haben mich zwar unter die Dusche gestellt, gleich nachdem es passiert ist, aber kein Wasser der Welt kann den Dreck abwaschen, der auf meiner Haut klebt. Er ist ein Teil von mir geworden, der für immer bleiben wird.

Ich wickle mich in das große Handtuch, das erstaunlicherweise nach einem frühlingshaften Weichspüler riecht und spüle die Dusche aus. Ich ignoriere die braunen Ränder, die das Wasser hinterlassen hat und schlüpfe in die letzte frische Unterhose, die mir noch geblieben ist. Ich kämme meine Haare mit einem Kamm und putze meine Zähne mit dem Finger und Zahnpasta. Unter dem Pullover finde ich eine dicke,schwarze Leggins, die mir viel zu weit ist, aber trotzdem fühle ich mich großartig.

Der Pulli besteht aus dickem Stoff und deshalb lasse ich meinen BH aus. Ich wickle meine alten Sachen zu einem Bündel zusammen und klemme es mir unter den Arm. Sobald ich die Tür öffne, überfällt mich ein schlechtes Gewissen, weil ich seine Gastfreundschaft so überstrapaziert habe. Ein tiefer Atemzug. Ich bin bereit in meine Wohnung zurück zu kehren.

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Was haltet ihr von Earl?

Ich bin gerade in Holland, aber morgen gehts leider schon nach Hause.🧡

Never Falling Deeper | AbgeschlossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt