26

396 27 4
                                    

Es ist zehn vor acht und ich bin startklar. Meine Haare sind zu einem strengen Zopf gebunden und meine Kleidung von gestern ist immer noch sauber und riecht gut. Ich trinke meine letzte Flasche Wasser aus und stecke mir einen Schein in den BH. Ich muss mir Essen und Trinken kaufen.

Ich beobachte die Zeiger auf meiner Armbanduhr und Punkt acht Uhr klopft es an der Tür. Earl trägt eine Kappe und lächelt mich an. Wie sehr man vergisst, wie viel ein Lächeln am Morgen wert ist, merkt man erst, wenn man lange keins sieht.

"Bereit?" Ich nicke, obwohl ich keinen Schimmer habe, ob das stimmt. Auf seinen Stock gestützt gehen wir die Treppen runter. Ich greife ihm unter den Arm, als er fast das Gleichgewicht verliert und lasse ihn erst los, als wir unten angekommen sind.

Er holt einen Autoschlüssel aus seiner grünen Cordhose und öffnet die Tür eines Chevrolet Camaros. Er tätschelt liebevoll die Mittelkonsole und bedeutet mir, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen. Sobald ich die Tür geschlossen habe, braust er los.

Wir verlassen Summersville, fahren an Harpers Ferry vorbei und halten vor einem Gemeindezentrum in Craigsville. Die Fahrt über haben wir kaum gesprochen, sondern beide unseren Gedanken nachgehangen. Aus dem Radio trudelt durchgängig RnB.

"Komm Mädchen, lass uns reingehen." Er hievt sich aus dem Auto und ich greife auf die Rückbank um seinen Gehstock mitzunehmen. Er winkt ab und ich folge ihm schweigend. "Du musst heute nichts sagen. Hör einfach zu. Sei Teil davon. Es wird dir helfen."

Mit einem Kloß im Hals, der mir den Atem erschwert, betreten wir das graue Betongebäude. Bunte Graffiti und Bilder von Jugendlichen in verschiedenen Altersgruppen schmücken die Wände. Zielstrebig und mit geradem Rücken betritt Earl den Raum am Ende des Flurs. Ich bleibe stehen, atme tief durch und folge ihm.

Ich war noch nie bei sowas. Einem Treffen für Menschen, die sich nicht kennen und sich ausnahmslos alles erzählen. Ich habe davon gehört, gelesen, aber ich war nie Teil von sowas. Rechts stehen mehrere Tische zu einem großen zusammengeschoben. Darauf stehen Brownies und Thermoskannen. "Bedien dich." Earl zwinkert mir zu und schnappt sich selbst zwei der Brownies. "Möchtest du auch einen Kaffee?", frage ich ihn und nehme mir eine pinke Tasse mit weißen Herzen. Sie ist das genaue Gegenteil von meiner schwarzen Lieblingstasse zuhause. Oder besser gesagt, befindet sie sich in Coles Wohnung.

"Nein, das tut meinem Herzen nicht gut." Ich nicke, zögere kurz, aber gönne mir dann den Luxus und fülle einen Schluck Milch und ein Stück Zucker in meine Tasse.

"Susen, was für eine Überraschung." Earl deutet eine leichte Verbeugung an, während die Frau, die ungefähr in seinem Alter sein muss, ihn mit einem wissenden Lächeln beobachtet. "Wen hast du uns mitgebracht?", fragt sie und deutet mit einem Nicken in meine Richtung. "Das ist Tate." Mehr sagt er nicht und ich bin ihm dankbar dafür. "Susen, ich bin die Gruppenleiterin, schön dich kennen zu lernen, Tate."

"Gleichfalls", murmle ich und folge den beiden, nachdem sie mir kräftig die Hand geschüttelt hat, zu dem Stuhlkreis in der Mitte des Raumes. Ich setze mich neben Earl und er sich, -was für eine Überraschung- neben Susen. Es ist bisher, außer einer Frau mittleren Alters die uns schräg gegenüber sitzt, niemand anderes hier. Ich beschäftige mich damit, einen losen Faden stramm um meinen Zeigefinger zu wickeln, bis meine Fingerkuppe blau anläuft.

Es dauert nicht lange bis ich Stimmen hinter mir höre. Ich unterdrücke den Impuls mich umzudrehen und halte den Blick gesenkt. Nach zwanzig Minuten sind die 15 Stühle, ich habe sie gezählt, alle besetzt. Susen räuspert sich.

"Willkommen." Sie lächelt herzlich in die Runde. "Schön, dass ihr hier seid. Die meisten wissen, wie es läuft." Zustimmendes Nicken und undeutliches Gemurmel. "Ausnahmsweise fange ich heute mal an. Ich glaube sonst verlässt mich der Mut." Sie lacht unsicher. "Ich bin Susen und Alkoholikerin." "Hallo Susen", kommt es von den Anderen. "Mein Enkelkind," sie seufzt, "hatte gestern ihren ersten Absturz. Sie ist 13 und wir haben sie vorher schon mehrmals alkoholisiert erwischt. Meine Tochter war total am durchdrehen und sogar ich musste mich sehr zusammenreißen." Die Hände im Schoß ineinander verkrallt und die Lippen aufeinander gepresst, spricht sie mit zitternder Stimme weiter.

"Meine Tochter versucht seit über fünf Jahren trocken zu werden, aber sie schafft es nicht einen einzigen Tag. Ich habe seit 10 Jahren keinen Alkohol getrunken und nie war es so schwer wie gestern. Ich hätte all das so gerne vergessen, wäre so gerne berauscht gewesen um es nicht an mich ranlassen zu müssen, um mich nicht damit auseinandersetzten zu müssen. Ich habe immer gedacht, dass es mit der Zeit leichter wird. Früher habe ich sogar gedacht, dass ich irgendwann Alkohol in kleinen Mengen trinken kann. Aber das wird nie funktionieren.

Die Krankheit ist immer da. Als würde sie nur darauf warten, mich schwächeln zu sehen um zuschlagen zu können." Earl hat seine Hand auf ihre gelegt und die junge Frau auf ihrer anderen Seite umarmt sie. "Ich bin zur Tankstelle gefahren und habe eine Flasche Wodka gekauft." Ihre Stimme zittert und im Raum ist es trotz der 15 Menschen so still, dass man eine Stecknadel fallen hören würde. "Ich habe nicht getrunken, aber ich war so kurz davor, wie seit zehn Jahren nicht mehr."

Applaus erfüllt den Raum. Tosender Applaus, der genauso gut von hundert Menschen kommen könnte. Sätze wie "du schaffst das" oder "wir glauben an dich" fliegen durch den Raum und Susen, die in sich zusammen gesunken war, richtet sich langsam wieder auf. "Danke." Sie räuspert sich und wischt mit dem Handrücken über ihre Wange. "Wer möchte jetzt?"

Ein Mann um die vierzig zeigt auf und erzählt nach der Begrüßung von seiner Frau, die er gestern im Krankenhaus besucht hat. Ein Mädchen erzählt von ihrem betrunkenen Stiefvater, der sie gestern bedrängt hat. So ausdruckslos und mit einem so leeren und unbeteiligtem Gesichtsausdruck, das es mir kalt über den Rücken läuft.

Ich höre zu. Eine Geschichte nach der Anderen, begrüße, applaudiere, drücke Hände und lächle. Das Lächeln der Menschen hier hat nichts mit glücklich sein zu tun, sondern mit Tapferkeit. Jeder kämpft seinen Kampf und ich hoffe aus vollem Herzen für jeden einzelnen, dass er ihn gewinnt.

Am Ende erheben sich alle, nehmen die Hände der Nachbarn und beten. Jeder still für sich und obwohl ich nie zur Kirche gegangen bin oder an eine höhere Macht geglaubt habe, bete ich für die Menschen, für die das eine Bedeutung hat.

Never Falling Deeper | AbgeschlossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt