Die nächste Woche über gehen wir an jedem einzelnen Tag zu einem Treffen. Earl ist genauso ein stiller Teilnehmer wie ich. Es gibt noch einige, die nie etwas sagen und andere, die jeden Tag etwas neues erzählen. Ein neuer Kampf, ein alter, der wieder an Bedeutung gewinnt. Das Leben dieser Menschen wird jeden Tag aus den Fugen gerissen.
Da ist eine Frau. Sie hat zwei Kinder und beide sind in verschiedenen Pflegefamilien untergebracht. Sie will sie zurück, bekommt aber weder den erforderlichen Job noch die Wohnung. Sie kommt in einem Businesskostum, weint in jeder Sitzung und verlässt dann hocherhobenen Hauptes das Gemeindezentrum.
Earl war heute während der Autofahrt schweigsamer als sonst. Normalerweise verzichtet er in Susens Gegenwart auf seinen Gehstock. Heute stützt er sein Gewicht darauf, als würde sein Leben davon abhängen. Sein Rücken ist rund und gebeugt. Er strahlt Hoffnungslosigkeit aus und unendlich viel Trauer.
Eigentlich habe ich immer gewusst, dass ich hierher gehöre. In so eine Gruppe. Eine Selbsthilfegruppe. Aber die Bedeutung habe ich sowas von unterschätzt.
Susen nimmt Earl in den Arm bevor die Sitzung angefangen hat. Anschließend tätschelt sie mir den Arm und setzt sich auf ihren Platz. Es fängt alles an wie immer. Dann ist der erste, der sich meldet, um etwas zu sagen Earl.
Meine Hände zittern schon, obwohl er noch nicht angefangen hat zu reden. Mein Herzschlag beschleunigt so sehr, dass ich meinen Kaffee abstelle, weil ich weiß, dass ich sonst durchdrehen werde.
"Heute ist der 23. Dezember. Fast alle wissen, dass mein Sohn am 23. Dezember vor genau 22 Jahren erschossen wurde. Hier in West Virgina, zehn Minuten von seinem Haus entfernt. Von einem weißen Polizisten, der nie für seine Schuld bezahlen hat. Mein Zorn und meine Trauer haben nie nachgelassen." Die Worte kommen fest aus seinem Mund. Als hätte er sie schoon hundert Mal gesagt. Tränen laufen über seine Wangen und er macht keine Anstalten sie wegzuwischen. "Ich bin wütender als damals, nur auf eine andere Art." Er presst seine Faust gegen die Stelle, wo sein Herz schlägt.
Ich halte seine linke Hand, ohne das ich weiß, wie es dazu gekommen ist. "Es ist kein unbändiger Zorn mehr, der mich von innen auffrisst. Es ist eine schmerzende Wut, die mich jeden Tag begleitet." Das Mädchen neben mir schnieft hörbar und kurzerhand lege ich meine freie Hand auf ihre. Sie drückt sie ohne aufzusehen.
"Nach dem Tod meiner Frau habe ich acht Jahre nichts anderes gemacht außer getrunken. Es ist als hätte ich die Sucht bekämpfen können, so lange sie noch da war. Ich hatte etwas wofür es sich zu kämpfen lohnt, doch sobald sie nicht mehr da war, habe ich jegliche Kontrolle verloren."
"An manchen Tagen frage ich mich, für wen und warum ich mich zusammen reiße. Ich frage mich, wen es interessiert, ob ich trocken bin oder nicht. Aber meine Frau hat immer gesagt, dass schlussendlich alles einen Sinn ergeben wird. Und ich hoffe darauf, stark genug zu sein, um diese Erkenntnis erkennen zu können, wenn es so weit ist."
Sobald Earl zuende geredet hat, schalte ich ab. Ich schaffe es nicht aus meiner Trauer und meinem Mitgefühl aufzutauchen und drifte immer weiter ab. Wie ein Strudel, der mich mitreißt, und nie wieder loslassen wird.
Ein Ziehen an meiner Hand lässt mich zusammen zucken. Das Mädchen, das links neben mir sitzt, schaut mit schräg gelegtem Kopf zu mir hoch. Alle anderen sind schon am Tisch hinter uns und bedienen sich beim Buffet, das heute deutlich üppiger ausfällt als sonst.
Sie sagt nichts, als sie aufsteht und direkt den Raum verlässt. Es ist das Mädchen, das bei meinem ersten Treffen von ihrem Stiefvater erzählt hat. Als sie um die Ecke geht, springe ich auf. "Warte", rufe ich. "Hast du ein Handy?" Sie nickt und reicht es mir ohne Fragen zu stellen.
"Ich bin Tate", sage ich, während ich meine Adresse in ihrem Handy speichere. "Mila", flüstert sie, nimmt das Handy zurück, sobald ich es ihr reiche und geht. In meinem Hals bildet sich ein Kloß. Sie wird meine Hilfe nie annehmen.
Ich gehe zurück, zwinge mich ein Stück Brownie zu essen und setze mich auf meinen Platz. Susen fragt mich, ob ich morgen zur Sitzung komme und ich antworte, dass ich kommen werde, wenn Earl kommt.
Heute fahren wir nicht direkt zurück. Earl nimmt einen anderen Weg und hält nach zwanzig Minuten vor einer Kirche. Er steigt aus und lässt die Schlüssel stecken. Seine rechte Hand zur Faust geballt stiefelt er an der Kirche vorbei. Nach kurzem Überlegen greife ich den Schlüssel, schließe das Auto ab und folge ihm.
Hinter der Kirche befindet sich ein Friedhof.
Earl kniet vor einem Grab, keine zehn Meter von mir entfernt und der Gehstock liegt vergessen neben ihm im Gras. Wie angewurzelt bleibe ich stehen, schaffe es kaum den Blick abzuwenden und fühle mich einfach nur hilflos.
Ich zwinge meinen Blick über den Friedhof zu wandern. Er ist klein und am Rand stehen hohe Bäume. Die Grabsteine sind klein, fast schmucklos. Nur wenige Blumen befinden sich auf den Gräbern, es gibt keine Kerzen oder Kränze.
Efeu rankt um die Steine, die der hinteren Mauer am nächsten sind. Einige Grabsteine stehen schräg, weil die Wurzeln der Bäume sich ihren Weg durch die Erde kämpfen. Dieser Friedhof wirkt naturbelassen. Er strahl Ruhe aus. Und Frieden, der nicht von dieser Welt zu kommen scheint.
Da es keine angelegten Wege gibt, folge ich dem Pfad aus Gras, der sich nach hinten schlängelt. Direkt an der Mauer wachsen ein paar blaue Blumen, die man unter den Efeuranken kaum sieht. Mittig auf den Blüten befindet sich ein gelber Fleck. Fasziniert streiche ich über den Stängel und entschuldige mich im Stillen bei den Blumen als ich tief greife und sie vorsichtig aus dem Boden ziehe. Mit ruckelnden Bewegungen löse ich die Wurzeln aus der Erde.
Aufatmend erhebe ich mich und gehe zurück zu Earl. Er hat sich nicht bewegt und den Kopf gesenkt. Seine Kappe liegt neben dem Stock im Gras. Er kniet mittig vor drei Grabsteinen, die nah beieinander stehen.
Ich bleibe in einiger Entfernung stehen und senke ebenfalls den Blick. Schmerz durchzuckt mich wie heiße Lava, als ich mich allem hingebe, was ich in dem Moment fühle. War ich schon der Meinung, dass die vergangenen zwei Wochen schlimm waren, lässt dieser Schmerz sie wie ein albernes Hirngespinst aussehen.
Die Panikattacke überrollt mich und ich lasse sie kommen. Gebe mich ihr hin. Ich sinke auf die Knie, während mir schwarz vor Augen wird. Mein Herz rast beunruhigend schnell und schlägt hart gegen meine Brust. Ich kann nicht mehr atmen. Ich versuche es, aber meine Nasenflügel schmerzen von der Hitze, die mein pansicher Körper ausstrahlt.. Meine Mundwinkel sind rissig und meine Unterlippe zittert.
Die Angst beherrscht mich. Das tut sie immer. Aber in diesem Moment sehe ich nur sie und nichts anderes. Wie ein schwarzer Umhang legt sie sich auf mich und drückt mich zu Boden.
"Tate." Ich werde hin und her geschüttelt und blinzle wild, als die Strahlen der Sonne mich treffen. "Aufstehen", befiehlt Earl und zieht mich erstaunlich schwungvoll auf die Beine. Benommen versuche ich mein Gleichgewicht zu finden. Sauerstoff füllt meine Lungen und das erleichterte Gefühl, das mich trifft, lässt mich dankbar zum Himmel schauen.
Ich öffne und schließe meine recht Hand und bemerke dabei, dass ich noch etwas in meiner linken halte. "Eine Iris." Earls Blick war meinem gefolgt. "Komm mit." Die Schatten um mich herum werden heller, die Sonne vertreibt sie. "Das wird ihr gefallen", murmelt er und kniet wieder vor den Gräbern nieder. Mit den Händen gräbt er eine kleine Kuhle und bedeutet mir dann die Blume rein zu setzen.
Ich tue es und bedecke die Wurzel mit Erde und Gras. "Die Iris steht für ewige und unabdingbare Treue." Er lächelt jedem der drei Grabsteine einzelnd zu, setzt seine Kappe auf und stützt sich an seinem Gehstock hoch.
"So, Mädchen. Morgen ist Heiligabend. Du bist alleine, obwohl du es nicht sein müsstest. Warum? Klartext. Jetzt. Sonst lasse ich dich einweisen."
______________
Es ist Zeit Tates Geschichte zu lüften, oder was denkt ihr?
DU LIEST GERADE
Never Falling Deeper | Abgeschlossen
Roman d'amourTate Mitchels weiß genau, was sie will und was nicht. Zum ersten Mal in ihrem Leben geht es ihr gut, wirklich gut. Sie hat Freundinnen, arbeitet, kann sich ihren Lebensunterhalt verdienen und studiert Journalismus. Das ist, was sie will. Ein normale...