Primrue Mellark 2 | Kapitel 25

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Wir blieben lange in der Cafeteria und versuchten Navet abzulenken, bevor wir ihn zurück auf seine Etage brachten. Die ganze Zeit lachte er, doch als die Aufzugtüren sich schlossen und uns nach oben bringen sollten, griff er nach meiner Hand. Ich senkte meinen Blick zu ihm als er leise flüsterte: „Hat mein echter Papa mich nicht lieb?“
Verwirrt schaute ich zu Cato, doch der schien genau so erschrocken wie ich. So viel zum Thema, dass der Junge nichts mitbekommen hatte, als er fernsehen geschaut hatte.
Navet schaute mich mit großen, traurigen Augen an und ich wusste nicht wirklich was ich tun sollte.
Was sollte ich ihm dazu schon sagen? Ich wusste es nicht. Einst war ich der Meinung gewesen, dass ich Finn sehr gut einschätzten konnte, aber mittlerweile war dies einfach nicht mehr so.
„Nein.“ Ich konnte mir gerade so ein erleichtertes aufseufzen verkneifen, als mein ehemaliger Mentor neben den Jungen in die Knie ging. „Er wusste nur nicht, dass es dich gibt. Das hat ihn verwirrt.“, sanft zerstrubbelt er dem Jungen die Haare, „Gib ihn einfach ein bisschen Zeit, damit er sich daran gewöhnen kann.“
Wieder fröhlicher nickte Navet, Cato zu. Genau richtig, da die Fahrstuhltüren in diesem Moment aufgingen und wir wieder auf seiner Etage waren.
Mit einem mulmigen Gefühl, klopfte ich leise an der Tür, die daraufhin sofort von Bryony geöffnet wurde, als hätte sie dahinter gewartet.
„Hey, da seit ihr ja wieder.“, tat sie überrascht, doch ich ignorierte es. Mit einem lächeln, schob ich Navet zu ihr herüber, der gleich in der Wohnung verschwand und lauthals zu erzählen begann, was er erlebt hatte. Shades Stimme antwortete ihm, woraufhin sich die Frau aus Distrikt Zwei wieder auf uns konzentrierte und die beiden Männer sich selber überließ..
„Danke das ihr ihn genommen habt.“
„Kein Problem. Aber er hat es mitbekommen.“, gestand ich, woraufhin Bryony seufzte. 
„Es ist ein wenig kompliziert. Navet hat schon immer gewusst, dass Shade nicht sein Vater ist aber ich hab ihn auch nicht wirklich von seinem richtigen Dad erzählt. Ich dachte, dass ich ihn nie wieder sehen würde, also warum den Jungen unnötig leiden lassen.“
Ich kannte mich mit so etwas nicht aus und wusste auch nicht was ich sagen sollte. 
Warum hatte ich immer so ein Talent, in so was hinein zu geraten?
„Wir lassen euch dann mal alleine.“, wollte ich mich verabschieden, doch Bryony griff fast panisch nach meinem Arm.
„Nein“, rief sie ein wenig zu laut. Mit gesenkter Stimme versuchte sie es noch einmal: „Ich meine, ihr wolltet doch zum essen bleiben...eigentlich. Oder? Wir könnten wirklich ein bisschen Abwechslung gebrauchen.“
Ich schaute zu Cato der nur mit den Schultern zuckte und somit keine große Hilfe war.
Seufzend gab ich nach.
„Wenn es euch nichts ausmacht.“
„Natürlich nicht.“, strahlte Bryony, „Danke.“


Der Abend wurde länger, als ich es gedacht hätte. 
Natürlich wurde nicht über das geredet, was vorgefallen war, aber ansonsten gab es allerlei interessante Geschichten, die besonders Shade, der Ausbilder der Soldatenrekruten war, zu erzählen hatte. 
Auch Navet schien fast zu vergessen, was an dem Tag alles passiert war und schlief irgendwann, an Cato gekuschelt ein, woraufhin Shade meinen ehemaligen Mentor aufzog, dass er anscheinend ein Händchen für Kinder hatte. Der fast panische Blick, der sofort in dessen Gesicht aufgetaucht war, war den ganzen Stress fast wert gewesen. 
Als ich jedoch sah, wie er den Jungen vorsichtig und sanft, damit er nicht aufwachte, in sein Bett trug, verspürte ich wieder dieses stechen in meiner Brust, was sich als Gewissen herausstellte. 
Frustriert schob ich die Gedanken jedoch bei Seite und ließ mich weiter von den beiden Diplomaten aus Distrikt Zwei, die mir immer mehr ans Herz wuchsen, bespaßen.
Komplett geschafft und müde, wankten Cato und ich jeder in sein Bett, bevor wir auch nur daran dachten, mit einander zu sprechen. Erst als ich im Bett lag, wurde mir klar, wie kalt und einsam es hier in der großen Wohnung war und wie viel angenehmer es doch bei Bryony und Shade war. Die beiden hatten es sicherlich nicht leicht und trotzdem schafften sie es, trotz aller Probleme, so Momente wie an dem Abend zu erschaffen. 
Wenn ich so etwas auch wieder haben wollte, wurde mir bewusst, dass ich dringend mit Cato sprechen musste. Auch wenn ich selber nicht wusste, was ich wirklich wollte aber vielleicht hatte er eine Idee.
Jedoch war es ein Unterschied einen Plan in einer Nacht zu schmieden und ihn dann auch in die Tat umzusetzen. Ich schob meine Feigheit darauf, dass ich einfach viel zu viel zu tun hatte und komplett eingespannt wurde.
Nach jeder Ratssitzung wurden Daphne, Karlic und ich in einem Raum „eingesperrt“ und kämpften uns durch die Daten, um irgendwelche Hinweise oder Verbindungen zwischen allen vermissten herauszufinden.
Ich wusste nicht, wie oft ich nun schon Namen, Alter, Geschlecht und Wohnsitz der Kinder durchgegangen war, aber immer wieder vermischte sich alles mit einander. Es waren einfach zu viele.
„Da ist nichts.“, seufzte Daphne am vierten Tag genervt auf und rieb sich über die Augen.
Ich konnte ihr nicht einmal widersprechen. Wir hatten uns mittlerweile so viele Bilder angeschaut, dass mich manche von ihnen schon in meine Träume verfolgten und ich mir ausmalte, was mit ihnen passiert sein könnte. Die Kinder wurden zu den Figuren in meinen Alpträumen und starben, wie die Tribute in meinen Spielen. Manche von ihnen tötete ich sogar selber, was mich jedes mal schweißgebadet auffahren ließ. Innerlich hoffte ich jedes mal, das Cato kommen würde und verfluchte mich gleichzeitig für meine Abhängigkeit. Immer wieder erwischte ich mich jedoch, wie ich zu meiner Tür starrte. Wie der Gedanke aufkam, dass es ja nicht weit wäre. Einfach raus aus meiner Tür und rein in seine. Dann wäre ich bei ihm und sicher. Keine Alpträume und selbst wenn ich welche hätte, würde ich in starken Armen aufwachen, die mich festhielten.
„Wobei“, Daphne setzte sich auf und ich schaute sie verwirrt an. Auch Karlics Blick war auf sie gerichtet, „Die die wir hier haben, sind doch alle von ihren Eltern vermisst gemeldet worden, oder? Ich meine, es war kein Überfall oder ähnliches, sondern sie waren einfach verschwunden.“
Ich ging in meinen Kopf noch einmal die Daten durch, doch auch heute verschwammen sie wieder zu einem einzigen verwirrenden Haufen. Der Junge aus Distrikt Neun schien so etwas besser zu können. 
„Nicht ganz“, seufzte Karlic, wodurch er einen wütenden Blick von Daphne kassierte. 
Ich war froh, dass Karlic uns half, auch wenn es eindeutig nicht seine Aufgabe war. Schließlich sollte er nur dafür sorgen, dass Daphne und ich uns nicht gegenseitig umbringen. Aber schon am ersten Tag hatte er klar gemacht, dass er helfen würde. 
„Ich habe nicht vor hier ewig mit euch sitzen zu müssen, sondern würde gern auch wieder was anderes machen.“, grinste er damals. Schon am ersten Tag hatte ich gemerkt, wie viel besser er in so etwas war, als Daphne und ich und war ihm dankbar. Ohne ihn hätten wir uns wahrscheinlich schon am ersten Tag geprügelt und würden jetzt, wie Hunde, angeleint da sitzen.
„Was meinst du mit, nicht ganz?“, giftete Daphne und funkelte Karlic wütend an. Etwas was ich schnell über das Mädchen herausgefunden hatte, war, dass sie es nicht mochte, wenn man in irgendeiner weise, ihre Fähigkeiten in Frage stellte. Der Junge aus Distrikt Neun schien davon jedoch nicht sehr beeindruckt, ohne die Miene zu verziehen, warf er ein Bild in die Mitte des Tisches, so dass wir es alle sehen konnten. Ein Mädchen, um die vielleicht vierzehn Jahre war darauf zu sehen, mit langem braunen Haar und und blauen Augen. Sie erinnerte mich ein wenig an mich, als ich selber noch jünger war.
„Von ihr wissen wir nur, dass sie verschwunden ist, weil sie nicht unter den Leichen war.“
„Unter den Leichen?“, horchte ich nun ebenfalls auf. 
Karlic seufzte und rieb sich über das Gesicht, bevor er ein Blatt Papier, was wahrscheinlich der Bericht war, in die Hand nahm.
„Ihre Eltern, wurden tot in ihrem Haus im Westen der Stadt aufgefunden. Mehrerer Messerstich und Abwehrwunden deuten auf einen Angriff hin. Die Tür war aufgebrochen, das Haus verwüstet. Alles was fehlte, war jedoch das Mädchen. Keine Wertgegenstände. Kein Geld. Nur das Kind.“
Ich blickte immer noch starr auf das Bild und fragte mich, was der Kleinen vielleicht passiert war. Welche Ängste sie ausgestanden hatte. Sie war nicht älter als Haymitch. Im Gegensatz zu ihm, war sie jedoch alleine.
„Wie ist ihr Name?“ Meine Stimme klang selbst für mich fern.
„Henna. Henna Milav. Dreizehn Jahre alt. Verschwunden seit fast sechs Wochen.“
„Na toll.“, beschwerte sich Daphne von der anderen Seite des Tisches. „Und so schnell sind wir wieder am Anfang, was bedeutet, wir haben nichts.“
Karlic stimmte brummen zu, doch ich selber konnte nichts erwidern. Alles was ich tat, war auf das Bild, des jungen Mädchens zu schauen, dessen blaue Augen, sich regelrecht in mein Gehirn brannten.

Primrue Mellark 2 | Ungewolltes SchicksalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt