Stuttgart

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Zuerst spürte ich die Kälte des Metalls. Und die Wucht, mit der es in meinen Bauch gerammt wurde. Die Kraft des Stoßes und meine Überraschung ließen mich ein paar Schritte nach hinten taumeln.

„NEIN!" schrie jemand. Ich realisierte das nur am Rande.
Und dann stürzte ich über die Kante des Turms. Ich fiel mit dem Gesicht gen Himmel. Ich wusste, ich würde nicht für immer fallen, aber für den Moment war ich glücklich. Ich sah den Himmel, die Wolken und die Sonne. Um den Aufprall konnte ich mir noch mein restliches Leben lang Sorgen machen.

-

Stuttgart, einige Tage zuvor

„Darf ich ihnen meine Tochter vorstellen? Das ist Irena."
Mein Vater nickte mir zu.
Verdammt, das war mein Zeichen. Haltung annehmen, Konzentration bewahren und freundlich in die Runde gucken. Eigentlich nicht so schwer, außer man hatte absolut wenig Interesse an dem ganzen Theater.
Und genau das hatte ich. Leider, könnte man sagen.

Ich, Irena, wurde regelmäßig von meinen Eltern, genauer gesagt Adoptiveltern, zu furchtbar strengen und langweiligen Veranstaltungen geschleppt.
So auch heute.
Wir waren wieder mal zu Gast bei irgendeinem extrem wichtigen Wirtschafts-kongress-was-auch-immer, bei dem meine Eltern mit sehr vielen wichtigen Leuten sprachen.
Sie suchten noch einen Unterstützer für ihr neues Großprojekt zum Thema erneuerbare Energien, und wie es schien, hatte mein Vater einen potentiellen Kandidaten gefunden.

Also riss ich mich zusammen und lächelte den zwei Männern mir gegenüber zu.  Der eine war etwa so alt wie mein Vater, um die 50, stilvoll mit Fliege, Weste und Jacket. Zudem hatte er einen zugegeben etwas altmodischen Gehstock. 
Seine dunkelgrauen Augen musterten mich zuerst nur flüchtig, aber dann schien etwas sein Interesse an mir zu steigern. Er sah mir unverhohlen in die Augen, und sein gekräuseltes Lächeln war mir irgendwie etwas sehr unheimlich.
Es jagte mir einen Schauer über den Rücken.
Schnell sah ich hinüber zu dem anderen. Der Mann war jünger, um nicht zu sagen fast in meinem Alter. Er hatte dieselbe braune Haarfarbe wie der Ältere, doch ohne die grauen Strähnen, und ich vermutete, dass es sich hierbei um Vater und Sohn handeln musste.
Anders aber als sein Vater schien der Sohn jedoch kein Interesse an dieser Unterhaltung zu zeigen. Er nickte mir nur kurz zu und schaute dann schnell wieder gelangweilt in die andere Richtung des Raums, um kein Gespräch beginnen zu müssen.
Sollte mir ganz recht sein.

„Irena, das ist Monsieur Drafort und sein Sohn Sébastien. Monsieur Drafort war bis zur letzten Legislaturperiode der Innenminister Frankreichs bevor er sich entschloss der Politik den Rücken zukehren und zurück zur Wirtschaft zu kommen." stellte mein Vater ihn vor.
Drafort, der Name war bereits im Gespräch auf der Herfahrt gefallen. Allen Vermutungen nach war er einer dieser sehr wichtigen Leute.

„Aber, aber mein lieber Herr von Reißenbach. Der Politik bin ich nicht ganz entkommen wie sie wissen, dennoch wollen wir nicht eine junge Dame mit Details aus meinem Leben langweilen, nicht wahr?" Seine Stimme klang sanft und tief, und obwohl er trotz der Stimmen um uns herum recht leise sprach, verstand man jedoch jedes Wort klar und deutlich. 
"Erzählen sie doch bitte etwas über sich, ihr Vater und ich haben nicht oft die Gelegenheit über Privates zu sprechen." In seinem Blick lag ein so wachsames, undefinierbares Interesse, dass ich kurz zusammenzuckte, was außer ihm keiner zu bemerken schien. Immer noch musterten mich seine dunkelgrauen Augen nachdenklich. Ich nippte schnell an meinem Sektglas, bevor ich antwortete.
„Nun, es gibt da bei mir nicht all zu viel. Ich studiere Medizin."
Ich lächelte entschuldigend und ausnahmsweise sehr froh über mein mangelndes Privatleben. Ich hatte überhaupt kein Interesse daran, mit diesem etwas gruseligen Herrn noch weitere Dinge aus meinem Leben zu erörtern, geschweige denn noch weiter zu plaudern.
Eine ziemlich lange Pause entstand, die nicht gerade angenehm war.
„Das stimmt, unsere Tochter studiert Medizin in Heidelberg. Sie war damals die Jahrgangsbeste in der Schule. Nicht, dass wir etwas anderes von ihr erwartet hätten." ergänzte mein Vater schließlich, als klar wurde dass ich nichts mehr sagen würde. Er sah mich leicht tadelnd an, weil ich damals meinen eigenen Kopf durchgesetzt hatte und nicht Ingenieurwesen studiert habe, so wie es er von mir verlangt hatte.
Ich wusste einfach schon damals, ich würde es meinem Vater nie recht machen können.
„Nun denn, dann vermute ich wird Sie sicher unsere Laboratorien in den oberen Stockwerken interessieren. Wir forschen dort an erneuerbaren Energien wie ihr Vater, jedoch eher wie sie den menschlichen Körper beeinflußen können und nicht wie man den meisten Profit daraus machen kann." Monsieur Drafort zwinkerte meinem Vater kurz zu und löste damit endlich seinen unheimlichen Blick von mir..

„Sébastien kann sie Ihnen zeigen, wenn Sie möchten?" Es klang mehr wie ein Befehl an seinen Sohn als eine Einladung an mich. Ich wollte antworten während ich trank und verschluckte mich prompt an meinem Sekt, unauffällig versuchte ich tief Luft zu holen um einen Hustenanfall zu unterdrücken.
„Ein sehr großzügiges Angebot, Monsieur Drafort. Irena weiß das wirklich schätzen." antwortete mein Vater an meiner Stelle, und so hatte ich keine andere Wahl als zu nicken und zu lächeln. Sébastien, der die ganze Zeit einem anderen Mädchen hinterhergeschaut hatte, fuhr etwas zusammen, als sein Name erwähnt wurde.
„Ich? Klar, mach ich Papa"
Schleimer.
„Hervorragend. Während sich die Jugend vergnügt würde ich noch gerne die ein oder andere geschäftliche Sache mit Ihnen besprechen, Herr von Reißenbach. Es ist mir gelungen mit Stark Industries..." Mehr bekam ich nicht mehr mit. Sébastien führte mich weg aus der großen Empfangshalle mit der Stierskulptur in der Mitte hinüber zu den Aufzügen.

Während wir auf einen warteten, warf ich noch einmal einen Blick in die Halle. Sie war groß, mit weißem Mamorsäulen. Überall waren Menschen in Abendgarderobe, oder Kellner, die Tabletts mit Getränken durch die Menge balancierten. in der Ecke spielte sogar ein kleines Streichquartett.
„Ja, das ganze kann schon ziemlich beeindruckend sein. Vorausgesetzt, man ist an solche Ereignisse nicht gewöhnt." sagte Sébastien durch und durch blasiert mit seinem französischen Akzent.
„Wer sagt, ich sei nicht an so etwas gewöhnt?" konterte ich.
„Dein Blick. Aber mach dir keine Sorgen. Mit den Maßstäben meines Vaters können die wenigsten Menschen mithalten."
Ein echter Charmeur, dieser Franzose.
Wir stiegen in den Aufzug. Ich hielt es für das Vernünftigste, nichts zu antworten um ja keinen Streit anzufangen.
„Gesprächig bist du wohl auch nicht, oder? Warum müssen eigentlich alle Mädchen hier in diesem Land so verstockt sein? Nicht mal den Ausschnitt wählt ihr tief genug um wenigstens noch fürs Auge attraktiv zu sein, alle müssen so schrecklich prüde sein."

Ich schnappte nach Luft. Was dachte sich dieser Kerl eigentlich? Zu gerne würde ich dem mal meine Meinung sagen.
Verdammt, hätte ich nicht den Deal mit meinem Vater.
Denk an Sophie, denk nur an Sophie... 

„Wie dem auch sei, wir sind da. Großartig etwas zeigen werde ich dir aber eh nicht, ich glaube nicht dass du davon viel verstehen würdest." sagte dieser Idiot recht gelangweilt.
Mir reichte es. Was dachte der sich eigentlich?
„Tatsächlich? Ich glaube eher, du könntest mir davon sowieso nichts erklären weil du selbst keine Ahnung hast, womit dein Vater hier überhaupt arbeitet!"
Blitzschnell drehte er sich zu mir um und drückte mich mit dem Unterarm gegen die Wand, eine Reaktion mit der ich nicht gerechnet hatte. Ich röchelte leicht als sich der Druck auf meine Luftröhre verstärkte.
„Ach ja?" zischte er. „Denkst du das? Dann pass mal auf" Ich roch seinen Atem, er hatte schon eine extreme Alkoholfahne obwohl der Abend noch recht früh war.
„Hier auf diesem Stockwerk liegt eine Energiequelle, auf die selbst Tony Stark neidisch wäre, würde er etwas davon wissen. Und mehr brauchst du auch nicht zu wissen." Dann ließ er mich los. Geschockt und sprachlos sah ich ihn an.
Dann drehte ich mich um und lief davon.

Ich irrte etwas planlos durch die Gänge. Ich hörte, dass Sébastien mir folgte, aber ich hatte keine Lust auf dessen Gesellschaft. Also öffnete ich eine der Türen und versteckte mich dahinter. Wo ich war, wusste ich nicht. Ich bemerkte auch erst zu spät, dass ich nicht alleine war.

Der Beginn (Avengers)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt