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Zu sagen, dass ich mich versteift habe, wäre ein Untertreibung gewesen. Ich bin schockgefroren. Zu Eis erstarrt. Meine Augen werden tellergroß und drohen mir gleich aus dem Kopf zu springen. Meine Arme hängen schlapp zu meinen Seiten runter und meine Beine rühren sich keinen Millimeter. Dabei sollten sie das. Und zwar ganz dringend. Ich flehe sie förmlich an, sich in Bewegung zu setzen. Sie müssen mir helfen! Sie müssen mir helfen, davon zu laufen.

Earl nimmt meinen Arm und legt seine Hand in meine. "Mädchen, du nimmst dir jetzt die Rückfahrt Zeit um dich zu sammeln. Zuhause machen wir uns eine Tasse Tee und dann will ich alles hören. Ungekürzt, mit allen Details, so schrecklich und grausig sie auch sein mögen. Ich lasse nicht zu, dass du diese Last weiterhin alleine stemmst."

Mir ist nicht bewusst gewesen, dass wir zum Auto gegangen sind, aber er drückt mich sanft auf den Beifahrersitz und steigt auf der anderen Seite ein.

In meinem Kopf dreht sich alles. Hunderte von kleinen Zahnrädern klicken laut und werden immer schneller. Es ist ein Kreislauf aus dem es kein Entkommen gibt und ich bin mittendrin.

Die Fahrt zur Wohnung dauert nur einen minimalen Bruchteil von dem, was ich gebraucht hätte. Trotzdem steige ich aus und stütze Earl während wir eine Treppe nach der anderen erklimmen. Oben angekommen setzt Earl Tee auf und ich kuschle mich in den Sessel, in der ich nach unserer ersten Begegnung gesessen habe.

Ich spüre seinen auffordernden Blick, aber mein  Schweigen bleibt hartnäckig. Selbst wenn ich gewollt hätte, weiß ich nicht, ob mein Mund mir gehorchen würde.

Der innere Kampf der in mir tobt, treibt mir Tränen in die Augen. Ein Teil von mir will es erzählen. Schon lange. Ein anderer versteckt die Erinnerung in einer schwarzen Truhe, die verschlossen im hintersten Winkel meines Bewusstseins vergraben ist.

"Tate, ich kenne dein wahres Ich nicht. Trotzdem weiß ich, dass du nur ein Schatten deiner selbst bist. Ein Geist, der sich bedeutungslos fühlt, obwohl er das ganz und gar nicht ist. Ich kenne das Gefühl. Die Angst vor dem Alleinsein und das Gefühl sich gleichzeitig danach zu sehnen. Der Zwiespalt zwischen 'ich will, doch ich habe Angst'. Aber du bist ein kluges Mädchen und du kannst das. Das hier bist nicht du. Das ist eine abgewrackte Version deiner Selbst."

"Du liegst falsch. Genau das hier ist mein wahres Ich." Meine Stimme klingt so resigniert und dunkel, dass ich sie selbst kaum erkenne. "Die letzten zwei Jahre habe ich so getan als wäre ich jemand anderes. Ein normales Mädchen. Eine Studentin mit 'nem Hang zum Alkohol und Pillen. Ein Teil einer Gruppe. Aber das war alles nicht echt.

Sie kannten mich nie. Sie haben nie etwas von meiner Vergangenheit erfahren. Wenn Liss von ihrer Schwester erzählt hat oder Toni etwas von sich und Robin aus der High School, habe ich immer Panik gekriegt. Ich hatte Angst, dass sie mich auch auffordern etwas zu erählen."

"Aber das haben sie nicht?," fragt Earl.

"Nein", gebe ich leise zu. "Bevor ich nach Harpers Ferry gezogen bin, habe ich drei Jahre in einem Wohnwagen gelebt. Ich habe meinen Abschluss heimlich nachgeholt. Das ich es überhaupt so weit geschafft habe, verdanke ich dem Umstand, dass wir erwischt worden sind. Haldan." Ich schlucke, denn obwohl es so lange her ist, bereitet mir der Gedanke an ihn eine unangenehme Gänsehaut. Einfach reden, nicht nachdenken!

"Haldans Vater hatte einen Club. Mit 15 habe ich angefangen dort zu arbeiten und es hat keine zwei Wochen gedauert bis Haldan ein Auge auf mich geworfen hat. Ich war bei Pflegefamilie Nummer vier und kurz davor rauszufliegen,  weil ich dem Jugendamt zu viel erzählt hatte. Die Aufmerksamkeit, die er mir schenkte, hat mir vorher noch nie jemand gewidmet. Ich habe sie aufgesaugt. Ich habe sie inhaliert und genossen. Er hat mich zu seinen Freunden mitgenommen. Auf Partys. Und plötzlich war ich in der Schule nicht mehr das gruselige Mädchen, mit dem niemand reden wollte."

Schon jetzt trifft mich die Erkenntnis, dass ich vieles, was ich gerade ausspreche, erst im selben Moment begreife. Ich lege alles an Zurückhaltung und alles an Scham ab und weiß in dem Moment genau, dass ich ihm wirklich alles erzählen werde.

"Ich wurde zur Schule gefahren und wieder abgeholt. Ich hatte keine Freunde und meine Lehrer hat es nicht besonders interessiert, ob ich da war oder nicht. Niemand hat gemerkt, wenn ich nach der Dritten abgehauen bin oder überhaupt nicht da war. Wenn es sich vermeiden ließ, hat niemand mit mir gesprochen. Es lag aber jetzt nicht mehr daran, dass sie mich ausgrenzen wollten oder hassten. Sie hatten Angst."

Ich seufze. "Alle anderen haben vor mir begriffen, in was für eine Situation ich geraten bin. Haldan hat mich nie zu etwas gezwungen. Aber er war Meister im manipulieren. Er hat es so aussehen lassen, als wäre es das, was ich wollte. Als wäre es meine Idee." Mein Blick war abwesend auf die graue Betonwand des Gebäudes neben unserem gerichtet.

"Eines Abends als ich hinter der Theke stand, haben zwei Mädchen gefehlt. Haldans Vater war an dem Abend nicht da und hat ihm den Laden überlassen. Er hat mich in die Küche gerufen und war vollkommen verzweifelt. Er hat mich gefragt, was er denn machen könne. Er hat sich die Haare gerauft und gegen die Wand geschlagen. Er hat gebrüllt und dann war er ganz ruhig. 'Hast du eine Idee', hat er mich gefragt. Mit einem flehentlichen Blick ist er vor mir auf die Knie gegangen. 'Bitte, sag mir, dass du eine Idee hast', hat er gesagt. Und ich habe genickt. Denn wenn der einzige Mensch, dem man etwas bedeutet, ein Problem hat und man es lösen kann, dann tut man es.

"Ich habe genickt und ihn angelächelt. 'Keine Sorge, ich mache es', habe ich gesagt und er hat mich in den Arm genommen und herum gewirbelt. Ich habe gelacht und seine Arme um meinen Körper genossen. Ich wurde gebraucht. Er hat mich gebraucht und das hat mich glücklich gemacht." Bitterkeit steigt in meiner Kehle auf und ich trinke einen Schluck Tee, der schon fast kalt geworden ist.

"Danach hat er mir schwarze Unterwäsche in die Hand gedrückt und mich nach hinten geschickt. Khadira hat mir etwas Wodka zu trinken gegeben und mir gesagt, dass ich einfach tanzen soll. So als würde ich es nur für mich tun. 'Und vielleicht für Haldan' hat sie mit einem Grinsen hinzugefügt. Ich weiß noch, wie rot ich geworden bin, so sehr hat es mich gefreut, dass sie das gesagt hat."

"Als ich dran war, stand er da mit Alicia. Sie ging auch auf meiner Schule, nur hatte ich sie vorher noch nie zusammen gesehen. Khadira hat mir zugeflüstert, ich solle ihn beeindrucken und sein Zwinkern hat das bestätigt. Also habe ich mich angestrengt, um seine Aufmerksamkeit wieder auf mich zu ziehen. Je verzweifelter ich getanzt habe, wenn sein Blick doch zur Seite glitt, desto lauter wurde das Gejohle um uns herum.

Nach dieser Nacht lagen wir in seinem Bett. Er hat mir immer wieder versichert, wie hübsch ich bin und wie toll ich getanzt habe. Doch das 'aber' hing bedeutungsvoll am Ende jeder seiner Sätze. Als ich ihn danach fragte, meinte er ich sei zu jung. Zu unerfahren, um seine Freundin zu sein. Schon bei dem Wort Freundin sind bei mir alle Sicherungen durchgebrannt, denn das war genau das, was ich wollte. Einen Partner. Eine Beziehung. Nicht mehr alleine sein. Koste es, was es wolle. Ich habe ihn praktisch angefleht mit mir zu schlafen und ihm versichert, dass er dabei keine Rücksicht auf mich nehmen muss. Ich wollte nicht das kleine Mädchen sein. Mein einziger Gedanke war, dass es ihm gefallen muss.

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Der 1. Teil von Tates Geschicht. 💔 Was denkt ihr?

Soll ich den zweiten Teil heute auch gleich noch hochladen?

Never Falling Deeper | AbgeschlossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt