Kapitel 1 - Die Ahnung

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Irgendetwas stimmte nicht mit Chris.

Er kam mal wieder zu spät zum Frühstück, was grundsätzlich noch kein Grund zur Sorge war, aber der schwarze Pulli, den er trug, war ihm mindestens zwei Nummern zu groß und ließ ihn deutlich schmächtiger aussehen als er ohnehin schon war. Beim Anblick seiner blassen Haut und seiner eingesunkenen Wangen, entgleisten Andreas fast die Gesichtszüge. Hatte sein Bruder etwa abgenommen? Und woher kamen plötzlich die dunklen Ringe unter seinen Augen? 

„Morgen, zusammen", grummelte Chris und fuhr sich mit der Hand durch die Haare.

„Morgen Schlafmütze", gab Andreas zurück und stieß seinen Ellbogen spielerisch in Chris' Seite. „Du siehst aus als hättest du die ganze Nacht kein Auge zugekriegt. Alles klar bei dir?"

„Hab nicht gut geschlafen."

Andreas war nicht überzeugt. 

„Sicher, dass nicht mehr dahintersteckt?" 

Chris hatte sich schon gestern etwas seltsam verhalten. Normalerweise wurde am Tag vor einem Auftritt nochmal alles Wichtige mit der Crew durchgesprochen, doch Chris hatte sich am Vorabend bereits früher davongeschlichen. Als Andreas ihn später im Tour Bus suchte, fand er seinen Bruder eingerollt im Bett, die Decke bis ans Kinn gezogen, wo er doch sonst immer ohne Decke schlief.

Andreas kannte Chris schon sein ganzes Leben lang und er wusste, dass alle Anzeichen darauf hindeuteten, dass sein kleiner Bruder sich wohl irgendetwas eingefangen hatte. Auch die Crew hatte bereits Verdacht geschöpft und tauschte besorgte Blicke über dem Frühstückstisch aus. In weniger als zehn Stunden würden sie vor vierzigtausend Menschen auf der Bühne stehen, das letzte, was sie da brauchen konnten, war, dass einer der Brüder eine Krankheit anschleppte.

„Du siehst echt fertig aus."

„Danke, Bruder", gab Chris trocken zurück ohne wirklich von seinem Teller mit dem unangetasteten Brötchen aufzusehen. Er stocherte lustlos mit dem Messer in einem Päckchen halb-geschmolzener Butter herum und gab schließlich auf so zu tun als hätte er vor tatsächlich etwas zu essen. 

"Ich hab keinen Appetit." Mit einem Seufzer erhob er sich wieder vom Tisch und setzte die Kapuze seines Pullovers auf, um sich vor den neugierigen Blicken der Crew zu verstecken. „Ich geh mich mal fertig machen, wir sehen uns dann später."

Andreas sah seinem Bruder hinterher als er das Zelt verließ und ein tiefes Unbehagen machte sich in ihm breit, so wie damals, als sie erfahren hatten, dass ihr Vater krank war. Chris und Sylvia hatten damals Hoffnung gehabt, dass der Krebs durch die richtige Behandlung weggehen könnte, doch Andreas hatte einen Blick in die Augen seines Vaters gewagt und gewusst, dass er  an dieser beschissenen Krankheit sterben würde. 

Genauso hilflos wie damals fühlte er sich jetzt. Nur dass es bei Chris nicht um Leben oder Tod ging, sondern lediglich darum, dass er sich zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt irgendwas eingefangen hatte. 

„Er ist krank, stimmts?", fragte Julia, eine der Visagisten die schon seit Jahren mit ihnen auf Tour ging. „Er ist ja kreidebleich und hat ganz rote Augen. Außerdem war er gestern nicht bei der Besprechung dabei. Und Chris hat noch nie ein Meeting verpasst."

Nun wurden die anderen Crew Mitglieder hellhörig. „Andreas, wenn wir den Auftritt absagen müssen, dann sollten wir das so früh wie möglich machen. Immerhin—"

„Jetzt macht mal halblang, Leute." Andreas stand auf und hielt die Hände beschwichtigend in die Höhe. „Lasst uns nicht gleich den Teufel an die Wand malen, okay? Ich seh mal nach ihm und dann schauen wir weiter."

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