Separation [Washio]

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Die Empfindung des Einsamseins ist schmerzlich, wenn sie uns im Gewühl der Welt, unerträglich jedoch, wenn sie uns im Schoße unserer Familie überfällt.
- Marie von Ebner-Eschenbach

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Angespannt saß ich auf dem Sessel in unserem Wohnzimmer, die Ellenbogen auf meinen Oberschenkeln abgestützt. Immer wieder flog mein Blick zwischen meinem Mobiltelefon auf dem Couchtisch vor mir und der Wohnungstür, die ich in dieser Position gut im Blick hatte, hin und her und wartete. Auf ihn. Meinen Verlobten, Washio Tatsuki. Ich konnte noch nicht einmal den Finger darauf legen, warum genau ich so angespannt war. Vielleicht lag es daran, dass ich mich grundsätzlich darauf verlassen konnte, dass er sich an seine gegebenen Versprechen hielt? Washio war noch nie der gesprächigste Typ gewesen und doch... wenn er mir sagte, dass er sich melden würde, dann tat er das im Regelfall auch. Im Regelfall. Nur nicht heute.

Ich atmete tief ein und ließ die angestaute Luft mit einem lauten Seufzer wieder aus meinen Lungen entweichen. Warum meldete er sich nicht? Das war absolut nicht seine Art und, um ehrlich zu sein, traf mich die Tatsache, dass er es nicht tat (aus welchem Grund auch immer), sehr. Mit zusammengezogenen Augenbrauen griff ich nach meinem Telefon und entsperrte es. Ich suchte die Nummer meines Verlobten heraus und rief ihn an. Es klingelte zwei Mal, dann erklang das Besetztzeichen. Hatte er mich gerade weggedrückt? Nein, das war bestimmt ein Versehen gewesen. Er würde mich nicht ohne driftigen Grund wegdrücken. Ich drückte auf die Wahlwiederholung und endete mit demselben Ergebnis. Das Besetztzeichen erklang, obwohl es noch nicht lang geklingelt hatte. Ungläubig starrte ich auf mein Display hinab, auf dem mir in großen Buchstaben das Wort ‚besetzt‘ entgegen prangte. Ich saß hier, machte mir Sorgen um ihn und er hatte tatsächlich den Nerv mich einfach wegzudrücken? Das war doch nicht sein Ernst? Fluchend erhob ich mich, steckte das Telefon in die Gesäßtasche meiner Jeans und tigerte durch das Wohnzimmer. Zu meiner Sorge gesellte sich nun der Anflug von Zorn. Was war in dem letzten halben Jahr nur in ihn gefahren? Ich erkannte ihn überhaupt nicht wieder. Es war nicht so, dass unsere Beziehung immer aus eitel Sonnenschein bestanden hätte oder wir besonders aneinanderklebten. Dennoch hatte Washio immer versucht zügig nach seinen Trainingseinheiten nach Hause zu kommen und am Wochenende ausreichend Zeit mit mir zu verbringen. Aus mir unerfindlichen Gründen hatte sich das vor sechs Monaten schlagartig geändert. Er kam spät nach Hause und war auch die Wochenenden mehr unterwegs, als bei mir. Unsere Konversationen beschränkten sich auf oberflächliche Floskeln oder beschäftigten sich mit den neusten Kostenerhöhungen für die Miet- und Nebenkosten oder dem anstehenden Wocheneinkauf. Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, dass mir dieser Umstand gefiel, denn das tat er überhaupt nicht. Doch jeder Annäherungsversuch den ich in den vergangenen Wochen gestartet hatte, war von meinem Verlobten kategorisch im Keim erstickt worden und er hielt mich weiterhin auf Abstand. Wenn ich ganz ehrlich war, machte mir diese ganze Situation eine Scheißangst, denn ich hatte den Verdacht, dass er mir etwas verschwieg. Düstere Gedanken begannen in meinem Kopf Gestalt anzunehmen und eine Welle der Unsicherheit begann sich zu der Sorge und der Wut zu mischen. Hätte mir eine meiner Freundinnen erzählt, dass sich ihr Freund so seltsam verhielt und sich distanzierte, dann hätte ich wohl darauf getippt, dass eine andere Frau ihre Finger im Spiel hatte. Ich presste die Lippen zusammen und schüttelte bestimmt den Kopf. Nein, das würde Washio nicht tun. Da war ich mir sicher. Er war einfach nicht der Typ für einen Betrug. Doch, wenn ich mir bei dieser Tatsache so sicher war, weshalb zog sich mein Herz bei dem bloßen Gedanken daran schmerzhaft zusammen?

Nervös blieb ich stehen und rieb mir mit den Handflächen über die Oberschenkel. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Washio hatte mich in all den Jahren noch nie in ein solches Gefühlschaos getrieben und es gefiel mir absolut nicht. Dieses unbestimmte Gefühl, dass ich seit diesem ersten Tag im Oktober hatte, drängte sich wieder an die Oberfläche und ließ mein Herz schneller schlagen. Es fühlte sich an, als würde ich ganz dicht vor dem Abgrund stehen und als fehlte nur noch ein kleiner Schubs um mich zu Fall zu bringen. Ein Sturz, der mich mit absoluter Sicherheit hart auf dem Boden der Tatsachen aufkommen lassen würde, wenn ich nicht aufpasste. Doch worauf sollte ich aufpassen? Egal, welche Gründe er für sein seltsames Verhalten haben und anführen würde, ich war mir sicher, dass ich nicht darauf vorbereitet sein würde. Konnte man sich darauf überhaupt vorbereiten? Wohl eher nicht, oder? Ich leckte mir über die Unterlippe, nur um sie im Anschluss zwischen meine Zähne zu ziehen und darauf herumzukauen. „Wo steckst du nur, Tatsuki?“, fragte ich in den stillen Raum hinein, wohlwissend, dass dieser mir keine Antwort würde geben können. Die Minuten troffen zäh dahin und wurden allmählich zu Stunden. Die Warterei trieb meine Ungeduld, meine Sorge, die Wut und meine Unsicherheiten weiter in die Höhe.

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